Es war Morgen. Früher Morgen. Die Sonne
ging gerade auf. Die Vögel fingen an zu zwitschern und es wurde warm.
Nana stand auf, machte die Vorhänge zu und schaltete den Computer an.
Sie hatte die halbe Nacht am Computer gesessen und im Internet gechattet.
Sie hatte viele Leute kennengelernt, aber ein Mädchen ging ihr nicht
mehr aus dem Kopf. Es nannte sich "yourself" und Nana unterhielt sich
lange mit ihr. "Yourself" war wohl etwas verrückt, denn sie behauptete,
dass sie im Computer eingesperrt sei. Sie flehte Nana mehrmals an, sie
doch zu befreien und irgendwann schrieb Nana dann, dass sie es versuchen
werde, aber wie, fragte sie? Sie verabredeten sich für morgens früh um
sechs im Chat und jetzt war es soweit.
Nana hörte das Rattern des Computers
beim Start. Als sie ihr Passwort eingeben musste, vertippte sie sich
zweimal, da ihre Hände zitterten. Dann ging sie ins Internet und auf die
Homepage des Chattes. Sie schrieb Nana und ihr Passwort in das Login-
Fenster und klickte auf Los. Ihr Herz klopfte. Würde "yourself" da sein?
Was wenn sich jemand einen Spaß mit ihr erlaubte?
Das Chatfenster lud. In der ersten
Zeile stand: Nana betritt den Raum. Niemand war da. Nanas Herz hörte auf
zu klopfen. Ihr wurde klar, wie blöd sie gewesen war. Ein Mädchen im
Cyberspace eingesperrt? Absoluter Quatsch! Irgendjemand hatte sie
reingelegt und lachte sich jetzt ins Fäustchen.
Gerade wollte sie auf den Logout-Button
klicken, da kam eine Nachricht. "Yourself betritt den Raum". Ihr Herz
fing wieder an zu schlagen und ihr wurde mulmig zu Mute. Yourself
schrieb: "Hallo Nana! Wie geht es dir?" Sie redeten eine Weile über
belanglose Dinge. Aber plötzlich fragte "Yourself": "Hast du es dir auch
nicht anders überlegt? Willst du mir helfen?" Nana wusste nicht recht,
was sie sagen sollte. "Woher kann ich sicher sein, dass du mich nicht
verarscht?", fragte sie. Es dauerte nicht lange, da kam die Antwort:
"Vertrau mir einfach! Stell dir vor, deine beste Freundin ruft dich an
und sagt, dass sie entführt worden ist. Würdest du ihr glauben?" Was
sollte das denn jetzt? Wie kommt diese "Yourself" dazu, sich mit Nanas
bester Freundin zu vergleichen? Sie antwortete: "Natürlich würde ich ihr
glauben, aber sie kenne ich und dich nicht!" Die Antwort kam wieder
blitzschnell: "Oh, du kennst mich sehr gut, du weißt gar nicht wie gut!
Du kennst mich besser als jeden anderen Menschen auf dieser Welt. Und
ich kenne dich."
Nana überlegte. Wer zum Teufel ist diese
Person, dass sie behauptet sie kenne Nana? Dass sie behauptet, Nana
kenne sie besser als jede andere Person auf dieser Welt?
Nach einer Pause schrieb Nana: "Wer
bist du? Wer bist du, dass du solche Sachen behauptest?" Diesmal dauerte
die Antwort etwas länger, aber als sie kam und Nana sie las, konnte sie
nicht glaube was sie da las:
"Ich bin ein Teil von dir, dein sechster
Sinn, noch viel mehr als nur eine gute Freundin. ICH BIN DU!"
Nana wurde es jetzt zu unheimlich. Was
sprach dieses Mädchen da? Was meinte sie mit 'ich bin du' ? Ihre Finger
waren schon auf dem Ausmachknopf des Computers, da schrieb 'yourself':
"Halt, nicht ausmachen! Du musst mich
retten! Wenn du mich nicht rettest, wirst du zu Grunde gehen!"
O Gott, was mache ich jetzt nur, dachte
Nana. Dann schaute sie sich um. Sie war hier und diese Person irgendwo
da draußen. Ihr wurde klar, dass Yourself ihr nichts anhaben konnte. Das
Vogelgezwitscher holte sie wieder in die Realität zurück. Sie wollte
wissen, was diese Person vorhatte und was sie von ihr wollte. Sie durfte
es nur nicht zu ernst nehmen. Da erschien wieder eine Nachricht auf dem
Bildschirm:
"Hast du Angst?" Nana antwortete sofort,
ohne zu überlegen: "Nein". Aber stimmte das? Sofort erschien wieder die
Antwort: "Doch hast du! Du versuchst, mich nicht ernst zu nehmen. Aber
ohne mich hast du keine Chance!" Jetzt ging diese Person aber zu weit.
Was meinte sie mit 'keine Chance'? Als wüsste 'yourself' was Nana
gedacht hatte, kam wieder sofort die Antwort auf ihre Gedanken:
"Sagen wir mal so. Stell dir vor, dein
Kopf würde in einer Besenkammer eingesperrt sein. Du könntest nicht
überleben ohne ihn." Jetzt verstand Nana überhaupt nichts mehr: "Aber du
bist nicht mein Kopf, sondern nur irgendeine Verrückte!" Jetzt kamen die
Antworten bereits so schnell, dass Nana nicht einmal Zeit hatte, über
sie nachzudenken: "Merkst du nicht, wer hier langsam aber sicher
verrückt wird? Du! Ja, ich bin auch verrückt, aber ich bin du. Rettest
du mich, rette ich dich!" Was meinte sie mit retten?? Nana konnte kaum
mehr schreiben, denn ihre Hände waren schweißnass. "Du brauchst mich
nicht zu retten! Es gibt nichts zu retten! Ich bin glücklich wie ich
bin, und ich brauche deine Hilfe nicht! Warum sollte ich dir dann
helfen?"
Nana zitterte. Draußen schob sich eine
dicke Regenwolke vor die Sonne, und es fing an zu nieseln. Das
Vogelgezwitscher erstarb plötzlich. Diesmal dauerte es etwas, bis die
Antwort auf die Frage erschien:
"Wie viele Nächte hast du darüber
nachgedacht, wer du wirklich bist, woher du kommst, wer dich erschaffen
hat, wer das hier alles erschaffen hat? Ich kann dir diese Fragen
beantworten, wenn du mich befreist! Ohne die Antworten wirst du dein
Leben lang nicht glücklich sein, du wirst sterben ohne es zu wissen.
Befreie mich!" O Gott, dachte Nana, woher weiß diese Person, die
behauptet, sie sei ich, das alles? Dass ich nächtelang über diese ganzen
Fragen nachdenke. Dass es mein größter Wunsch ist, dass diese Fragen
beantwortet werden? Wenn diese Person, wer immer sie auch ist, das alles
wüsste, dann würde Nana alles dafür tun, um 'Yourself' zu retten.
Obwohl, würde sie wirklich alles dafür tun?
'Ganz ruhig', dachte Nana. 'Ganz ruhig'.
Dann schrieb sie: "Was muss ich tun?" Die Antwort kam wieder in
Sekundenschnelle: "Du musst einen großen Preis bezahlen für diese
Antworten. Du wirst alleine sein. Keine Freunde. Nur ich. Keine Eltern.
Nur ich. Keine Feinde. Nur ich." "Aber warum?" "Im Supermarkt bekommst
du auch nur etwas zum Essen, wenn du Geld dafür gibst. Für nichts gibt’s
nichts, kapiert?"
Das kapierte Nana sehr gut, aber sie war
nicht bereit, alles für diese Antworten herzugeben. Vielleicht ein paar
Sachen, aber nicht alles! Deshalb schrieb sie: "Ich will das nicht! Ich
brauche dich nicht! Ich bin bis jetzt ohne dich ausgekommen! Alle
Menschen auf der Welt kommen ohne die Antworten aus, warum sollte ich es
nicht schaffen?" "Weil du anders bist. Du hast jetzt eine Minute Zeit,
dich zu entscheiden. Befrei mich oder gehe zu Grunde!"
Nana geriet in Panik. Was meinte 'Yourself'
mit 'zu Grunde gehen'? Sterben? Nicht glücklich sein? Oder doch etwas
ganz anderes? Was ist, wenn 'Yourself' recht hatte? Was, wenn nicht?
Vielleicht ist sie weg, wenn sie den Computer ausmachen würde.
"Noch dreißig Sekunden."
"Noch zwanzig."
Plötzlich wurde der Computer schwarz.
Das Surren des Computers hörte auf. Das Licht im Zimmer ging aus. Nana
wollte schreien, bekam aber keinen Ton heraus. Plötzlich ging die Tür
auf. Nana fuhr herum.
Es war ihre Mutter! "Nana, was bist du
denn schon wach? Der Strom ist ausgefallen. Wegen des Gewitters. In der
ganzen Stadt brennt kein Licht. Hast du Kerzen hier?" Nana atmete auf.
Nie wieder, nie wieder werde ich im Internet chatten, dachte sie. Nie
wieder.
Sie hörte nie mehr von 'yourself',
diesem Mädchen aus dem Cyberspace. Das Internet rührte sie auch nie mehr
an. Später studierte sie Philosophie, aber ihre Fragen wurden nicht
beantwortet, es wurde nur darüber philosophiert. Manches Mal dachte sie
an 'yourself' und ob es ein Fehler war, sie nicht zu befreien. Aber 'yourself'
hatte nicht ganz recht. Es gab nämlich noch etwas anderes auf der Welt,
als Fragen, Fragen, Fragen. Nämlich einfach nur sein, das Leben
genießen. Auch so konnte man glücklich werden, auch wenn trotzdem immer
ein Loch blieb, dass sich auch niemals schließen wird - damit muss man
sich abfinden.