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Geburtstagsgeschenk 2005

(Alter der Autorin: 15 Jahre)


Wie immer

Warum? Warum?? Sie wachte auf. Schon wieder diese Frage. Es war noch dunkel. Sie stand auf, zündete die Öllampe an und ging zum Bett ihres Bruders. "Wach auf, Naghu, Zeit zur Schule zu gehen". Schon wieder dieses Gefühl. Dieses Gefühl des Neides. Naghu erhob sich grummelnd aus seinem Bett. An seiner Stelle wäre ich froh. Immer noch der Neid. Aber der Neid wandelte sich nicht in Hass um, wie er es sonst tut. Die Liebe, ohne sie wäre es schon lange passiert. Die Stimme vor der Hütte riss Nambu aus den Gedanken. Sie eilte hinaus, wo ihre Mutter auf ihre Hilfe wartete. Helfen, das ist etwas Gutes. Aber muss es nicht einen Sinn haben? Warum? Schon wieder. Nambu kochte in einem kleinen Topf den Haferbrei. Schon wieder diese Gedanken. Irgendetwas roch komisch. Der Brei. Angebrannt. Ärger. Vater. "Nambu, was ist schon wieder los mit dir? Was kannst du eigentlich? Nichts! Nicht mal kochen, von putzen und waschen hast du auch keine Ahnung! Aber dann in die Schule wollen, lern erst mal, was eine Frau können muss! Bücher?! Kann man Bücher essen?" Nein, Vater, du hast ganz Recht, Vater. Es hatte keinen Sinn. Die Ohrfeige schmerzte. Schmerz. Was ist schon dieser Schmerz gegen den Schmerz der... Nambu, bring deinen Bruder zur Schule. Ja, Mutter. Naghu lief voraus und Nambu folgte ihm. Alle Jungs aus der Umgebung kamen aus den Hütten am Rand von Mogadischu heraus, um zur Schule zu gehen. Wo sind die Mädchen? Beim Kochen. Beim Waschen. Beim Nähen. Was machen sie den ganzen Tag? Kochen, waschen, nähen. Sie nennen es Leben, das Leben einer Frau. Das war kein Leben, nicht mal ansatzweise. Die Jungs, die Männer, die hatten ein Leben. Wenn zwar nicht perfekt, aber immerhin. Sie konnten tun, was sie wollten, hatten alle Möglichkeiten. Aber nutzten sie sie? Nein, sie machten weiter, wie es schon Tausende vor ihnen taten. Sie lernten nicht daraus. Die Welt hier in Somalia war schon zerstört. Sie zerstörten sie weiter, indem sie weiter machten und das für richtig hielten. Sie gaben allen die Schuld, nur nicht sich selber. Warum merkte das niemand? Warum ändert es niemand? Schon wieder dieses Warum. Warum gab es keine Antworten?

Nambu brachte ihren Bruder bis zum Tor der Schule. Weiter durfte sie nicht. Für Frauen und Mädchen verboten. Sie ging wieder. Es gab eine Frauenschule. In der Stadt. Nambu war einmal in der Stadt. Es war nicht viel besser als hier. Der Tag verging. Wie er immer vergeht. Nichts neues. In der Nacht schlief Nambu vor der Hütte auf ihrem Schaffell. Es war tausendmal schöner als drinnen. Sie schaute nach oben. Die Sterne. Jeder Stern eine Hoffnung. Dort oben, dort oben müsste man sein. Was auch immer dort ist, es muss besser sein. Die Gedanken ließen sie nicht los. Das tun sie nie. Sie bleiben, im Schlaf gehen sie in Traum über. Träume waren etwas Schönes. Sie ließen einen für einen winzigen Augenblick glauben, alles wäre gut. Und schon schlief sie. Der nächste Tag war wie immer. Nur Nambus Vater war noch schlimmer als sonst. Er hat alles Geld ausgegeben. Für Alkohol. Sie hatten nicht viel Geld. Nambus Vater war Farmer, wie alle Männer hier. Das meiste Geld gab er für diese abscheuliche Flüssigkeit aus. Und dann war er unerträglich. Einmal hatte er Nambu grün und blau geschlagen, weil sie in einem Buch gelesen hatte. Es kam von ihrem Bruder. Alkohol ist schrecklich. Es kann dich von Grund auf zerstören. Nambu hatte schon Erfahrung damit gemacht. Es war grauenhaft. Keine Macht mehr über sich zu haben, nicht mehr klar denken zu können. Was hatte sie denn mehr als Gedanken? Nichts. Doch, Liebe. Sie liebte ihren Bruder, ihre kleinen Schwestern. Ihre Mutter. Doch sie waren alle so dumm. Sie machten weiter, ohne etwas zu ändern. Ohne die Liebe wäre es nicht auszuhalten.

Das Leben ging voran. Es ging und ging. Wie eine Uhr. Nur ab und zu stehen blieb es nicht. Manchmal wünschte sich Nambu das. Einfach stehen bleiben, nicht weitermachen. Wie schlafen, nur tiefer. Irgendwann weitermachen. Die Liebe würde sie immer wieder zurückholen.

War es eigentlich überall so wie hier? Nambu war noch nie aus Somalia rausgekommen. Wie war es in Europa? In Europa sind alle Menschen gleich. So sagen alle. Doch es gibt den Islam. Der unterdrückt die Frauen genauso wie hier. Was ist mit Asien? Da gibt es den Buddhismus. Buddha hat sich vor vielen Jahrtausenden geweigert, eine Frau, sie hieß Mahaprajapati und war seine Amme, in seinen Orden aufzunehmen. Das hat auch diese Religion geprägt. Im Hinduismus ist es ähnlich. Wenn der Mann einer Frau stirbt, wird ihr die ganze Schuld zugeschoben. Sie wird überall als Witwe ausgestoßen, hat keine Rechte und bringt angeblich Pech. Ihren Töchtern geht es genauso. Nur die Söhne sind ein gutes Zeichen von den Göttern, wenn die Witwe Söhne hat, geht’s ihr besser. Kein Wunder, dass so manche Witwe mit auf den Scheiterhaufen springt. Im Taoismus ist es ähnlich. Im I Ging, dem chinesischen Weisheitsbuch ist das männliche Zeichen (Kien), als das Schöpferische, als Himmel und als Gelingen dargestellt. Das weibliche Zeichen (Kun) ist das Empfangende, das machtlose, also das, das alles mit sich machen lässt. Das sagt alles.

Wo ist es anders? Nirgendwo. Es hatte keinen Sinn wegzugehen. Aber hierbleiben ist genauso unsinnig. Nambu war jetzt 15. Mit 16 sollte sie heiraten. Dann beginnt das Grauen, das wusste sie. Grauen. Das hatte sie schon. Konnte es noch schlimmer werden?

Sie hatte von Kriegen gehört. Auch in Somalia war Krieg. Davon bekam sie allerdings nicht viel mit. Die Erwachsenen redeten nicht darüber. Sie meinten, es gäbe wichtigere Dinge. Doch was ist wichtiger, als wenn Menschen, die doch alle gleich sind, sich gegenseitig umbringen? Wieso tun sie das? Hass. Hass ist Neid. Bei ihnen gibt es keine Liebe, die die Verwandlung von Neid zu Hass verhindert. Doch wo war sie, die Liebe? Sie hatten sie vergessen. Aber sie musste doch noch da sein. Irgendwo. Vielleicht hat sie sich an irgendeinem Platz gesammelt. Dort müsste man sein. Vielleicht entlädt sie sich ja irgendwann und jeder bekommt etwas ab. Dann wäre die Welt gut.

Es war ja nicht so, dass Nambu nichts tat, um ihr Leben zu verändern. Jeden Tag las sie heimlich in Büchern ihres Bruders. Sie hatte die Voraussetzungen, um in die Mädchenschule in der Stadt zu gehen. Aber nicht die Mittel. Geld. Geld fehlte ihr. Das hatte hier niemand. Nur die Weißen. Aber sie gaben nichts davon ab. Sie meinten, sie bräuchten es selber. Hätte sie Geld, könnte sie auf die Schule gehen, später in einem fernen Land studieren und dann einen Beruf ausüben. Aber wäre alles dann besser? Die Welt hätte sich dadurch nicht geändert. Es wäre alles beim Alten geblieben. Sie wollte es trotzdem versuchen.

Und sie versuchte es. Jeden Sonntag verkaufte sie ihren selbst angebauten Mais und hatte bald Geld gespart. Sie löste sich von ihrer Familie und ging in die Stadt. Und auf die Schule. Alles schien gut. Sie lernte viel, ging fort in ein fernes Land. Verdiente Geld. Alles schien gut.

Doch es war nicht gut. Das merkte sie, als sie wieder nach Somalia ging, um ihre Familie zu besuchen. Nach langer Zeit. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass alles so war wie früher. Sie hatte sich verändert. Sie dachte, alles hätte sich verändert. Doch das war ein Fehler.

Menschen gingen immer noch wie Schatten durch die Straßen. Ohne Ausdruck. Ohne Ziel. Sie sah Frauen, die wie früher, wie immer, ihrem Werdegang nachgingen. Kochen, waschen, nähen. Sie sah Männer Alkohol trinken. Verrückt werden, Frauen schlagen, Kinder weinen, hörte im Radio Bomben fallen, sah im Krankenhaus Kriegsverletzte liegen, sah Menschen Hundearbeit verrichten, sah den Hass in ihren Augen.

Nichts. Sie spürte nichts. Blaue Schleier vor ihren Augen. Stimmen, leise flüsternd, hektisch. Die Schleier färbten sich rot. Sie muss ins Krankenhaus. Nein. Es war zu spät. Sie wollte weg, war es schon fast. Nichts hielt sie. Die Schleier verschwanden. Nichts.

Die Liebe war nicht stark genug gewesen.

Und alles war wie immer.

 

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