Augenblicke am Palastplatz
Der erste Blick fiel auf die Frau mit den weißen Zähnen
und der dunklen, runzligen Haut. Sie hockte unter dem Holzpavillon am
Manga Hiti und lutschte an einem Milcheis, das ebenso weiß wie ihre
Zähne war. Sie trug ein schwarz-weiß gepunktetes Kleid über einem bunten
Etwas, um die Hüften ein purpurnes Tuch gebunden. Ihren Kopf
bedeckte ein mehrfach umschlungenes Tuch, welches ihr über den Rücken
fiel und das Pflaster der Plattform, auf der sie saß, streifte. Goldene,
staubige Sandalen hingen an ihren Füßen, sie balancierte sie kunstvoll
hin und her, die Beine baumelnd, und auch das Eis hielt sich wankend
aber sicher mal in ihrer Hand, mal in ihrem Mund. War es einmal in der
Hand, formten die Lippen bauschige, fremde Laute, einem Mantra gleich.
Ihr Blick lag auf den Opfergaben, die vom Vishwanath Tempel hinüber
wehten und nun von Tauben aufgepickt wurden, Chamaal und Ciura, rot und
gelb gefärbt.
Zwei Tauben kamen noch dazu, flogen vom Palastdach
hinunter, klaubten auf, was noch zu holen war und dachten: Welcher Gott
macht roten Reis? Eine von ihnen, neu auf dem Platz, blickte kurz von
der Mahlzeit auf, sah den Elefanten über sich, erschrak und machte einen
Satz in Richtung Brunnen.
Hathi, schien die Steinfigur auf dem einen Elefanten zu
flüstern. Nun geh endlich! Doch, wie schon seit Jahrhunderten, blieb das
mächtige Tier im Versuch einen Schritt zum Brunnen, zum so lange
begehrten Wasser, zu machen, versteinert harrend. Genau wie sein Bruder
rechts neben ihm, und so blieb den Reitern nichts anderes übrig, als
abermals die beiden Pavillons anzustarren, der rechte den Rechten und
der linke den Linken, natürlich. Gerade gab es - gut für den rechten
Reiter - sogar etwas zu sehen auf der Plattform des rechten Pavillons.
Eine Sarangi erklang dort in der Hand eines unzufrieden
drein blickenden Mannes in Kurta und rot-schwarzem Topi. Parallel zu der
Frau mit den weißen Zähnen strahlte er nur wenig Leben aus. Seine Zähne
malten, während er sich seiner Volksweisen zu schämen schien. Der Topi
rutschte hin und her als er sich an einem klimpernden Solo versuchte,
das schmutzige Holz des Instruments unter den dunkel geränderten
Fingernägeln.
Um ihn herum stand eine Traube von Menschen, ihre
Aufmerksamkeit nicht hauptsächlich ihm, sondern dem lauthals singenden
Mädchen neben ihm widmend. Sie saß dort, auf ihrer Sportjacke ein
moderner Schriftzug, ruhig und nichts als ihr Mund und ihre Pupillen
schien sich an ihr zu bewegen. Auf ihren Händen saß sie, zitterte
leicht, aber sang trotzdem so gut wie sie es eben konnte. Die tiefen
Töne sang sie mit Inbrunst und Trefflichkeit, die hohen Töne zwar mit
weniger Treffsicherheit, dafür mit umso mehr Überzeugung. Das Lied wurde
wiederholt, mal für mal und unter Garudas Blick, dem Mannvogel oben auf
der Statue vor Krishnas Tempel, kamen mehr und mehr Wesen dazu.
Die Frauen an den Wasserspeiern am Grund des
ausgetrockneten Brunnens, des Manga Hiti, schauten hinauf, während sie,
im Kampf gegen die Sonne verschleiert, dort in der Schlange mit ihren
Plastikbehältern standen. Sie warteten auf Wasser für sich und ihre
Familien, welches ihnen durch uralte Wassersysteme auch in der
Trockenheit von den krokodilartigen Speiern angeboten wurde. Nicht nur
Menschen, auch Hunde scharten sich um die Musiker und Taube um Taube
setzte sich auf das Pagodendach des Pavillons.
Doch dies war nicht alles, noch jemand wurde von den
Klängen angelockt, einzig durch ein rötliches Schimmern, mehr ein
Flimmern in der Luft von dem singenden Mädchen wahrgenommen.
Machhendranath, der Rote, war gerade fertig mit seinem täglichen Besuch
der Altstadt und ließ sich vor der Rückkehr in seinen Tempel weiter im
Süden nocheinmal von seinen Trägern zum Brunnen tragen, um nach dem
Wasserstand zu schauen. In Gegenwart all der Götter auf dem Palastplatz
fühlte er sich stets unwohl dort und er hatte kurz vor Einleitung des
Monsuns auch noch Einiges zu tun. Er musste fertig werden, bevor ihn die
Menschen kurz vor Beginn des Monsuns in der langen Zeremonie, einem
Festival nur ihm zu Ehren, zu seinem Sommersitz brachten. Dennoch
verharrte er einen Augenblick und wandte sein rotes Haupt dem Spektakel
zu.
Das Mädchen sang weiter, sang über Leben und Tod, über
Liebe zu einem Menschen und zum ganzen Land. Uralte Gefühle und
Emotionen schwangen mit und erfüllten die Menschen wie auch den Gott,
der sich selten von so irdischen Verlockungen und Anhaftungen angezogen
fühlte, immer zu sehr mit seinen himmlischen Aufgaben beschäftigt. Doch
nun war er ganz angetan von der Musik und was sie in ihm auslöste und
blieb ein wenig in diesem Zustand, wie lange, das vermochte er nicht zu
sagen, denn Zeitgefühl ist nichts für Götter. Er wusste nur, dass es
endete als er ein lautes, kreischendes Gelächter vernahm. Er blickte zum
Palastdach auf und was oder vielmehr wen er dort sah, ließ ihn einen
kleinen Seufzer ausstoßen, woraufhin die Japanerin mit der Kamera, so
groß wie ein zweiter Kopf, neben ihm kurz erschrak, dann aber das
Geräusch dem Hund zu ihren Füßen zuordnete. Der Rote konnte sich nicht
mehr entziehen und musste dem Ankömmling, der sich jetzt die Backsteine
hinunterhangelte, entgegentreten.
„Bei all den Göttern auf diesem Platz“, rief er dem
Kletterer entgegen. „Musste ich ausgerechnet heute dir begegnen, Hanuman!“
Der Affengott machte einen letzten Hüpfer und ließ sich kichernd vor dem
Roten nieder, seinen Schwanz schwenkend, was einem faulen Hund einen
kühlen Luftzug verschaffte. „Dich sieht man aber auch selten hier,
Machhendranath! Zumindest an meiner Statue scheinst du dich immer herum
zu schummeln! Naja, ist ja auch blöd, wenn man sich nicht selbst
fortbewegen kann“, druckste Hanuman und seine Schneidezähne blitzten im
Affengesicht hervor. „Was macht der Monsun? Scheint zu schlafen, wann
weckst du ihn?“ Der Rote war sogleich ein wenig beleidigt aufgrund der
Anspielung seines Gegenübers auf die ihm fehlenden Gliedmaßen. Wurde
doch nur zu häufig von anderen, vitaleren Göttern auf der Geschichte
rumgeritten. Er wollte nicht zum tausendsten Mal daran erinnert werden,
wie er eines Nachts, noch als kleines Kind, das Kind von Dämonen, an
seiner Mutter vorbei aus dem Haus schleichen wollte. Leider war es
damals so, dass seiner Mutters Haare den Eingang versperrten und es ist
eine Todsünde, über den Leib und damit auch die Haare seiner Mutter zu
steigen. Somit (er durfte sie natürlich nicht aufwecken, wollte er doch
unbemerkt nach draußen gehen), fasste er jedes einzelne Haar seiner
Mutter mit den Fingerspitzen und legte es zur Seite. Unglücklicherweise,
und dieser Fehler verfolgte ihn nun schon sein ganzes, göttliches Leben,
vergaß er ein Haar, stieg über dieses und verlor als Strafe seine beiden
Beine. Obwohl er damals noch so klein war, wurde ihm dieser Fehler noch
immer vorgeworfen und Hanuman in seiner spöttischen Art musste natürlich
darauf anspielen. Das alles ärgerte den Gott, doch er antwortete nur:
„Er schläft tief dieses Jahr, also halte mich bitte nicht von meiner
Arbeit ab, ich werde mich natürlich, wie immer, darum kümmern.“ Der
Affengott räkelte sich jetzt auf dem Boden, zog mit seinen gelben
Fingernägeln eine Laus aus seinem Fell und seufzte: „Du hast wenigstens
noch eine Aufgabe, Jahr für Jahr, andauernd sozusagen...“ Sein Blick
fiel auf eine junge, sehr hübsche Frau in einer bunten Kurta, die vor
den kleinen Vishnu-Tempeln saß und Kaugummi kaute. Merkwürdig wissend
starrte sie zurück und Hanuman fuhr fort, leicht spöttisch: „In diesen
Zeiten hat ein Gott doch nichts mehr zu tun, keine Heldentaten sind mehr
zu verrichten.“ Er klaubte ein rotes Reiskorn auf, fuhr es zum Mund
(eine Taube beschwerte sich gurrend) und kaute gelangweilt auf ihm
herum. Der Rote stand immernoch etwas steif vor Hanuman und fragte sich,
wann er wohl wieder zurück in seinem Tempel sein würde. Doch der strenge
Verhaltenskodex, vor Äonen vom Schöpfer verfasst, verbot es ihm, einfach
zu gehen.
Plötzlich sprang der Affengott auf, hüpfte einmal um die
Menschenmenge herum (seine Leichtfüßigkeit unnötig zur Schau stellend)
und ließ sich dann auf des roten Schulter nieder. Er flüsterte ihm ins
Ohr: „Du weißt, ich bin der Inbegriff der Sicherheit für die Menschen.
Sie vertrauen mir... Wenn ich nun dieses Vertrauen ein wenig erschüttern
würde, z.B. in dem ich mit deiner Hilfe eine kleine Naturkatastrophe,
sagen wir, das Ausbleiben des Monsuns, initiierte... Dann hätte ich
endlich wieder etwas zu tun, nämlich eine Heldentat zu verbringen, um
das Vertrauen wieder herzustellen... Und du hättest mal ein bisschen
Abwechslung.“ All das wisperte er hastig, als wollte er es schon lange
loswerden. Der Rote war einen Augenblick sprachlos, doch er sagte zu
dieser absurden Idee nur: „Der Herr wird das nicht zulassen.“ Hanuman
sprang von der Schulter herunter und rief zornig: „Shiva meditiert schon
seit Jahrhunderten, dort!“ Er zeigte auf die undeutlichen Umrisse des
Himalaya, die sich über dem Platz abzeichneten. „Und es wird auch noch
Jahrhunderte dauern, bis er wieder zurechnungsfähig ist!“ Dies rief er
sehr laut, sprang auf das Pavillondach und dem Roten lief ein Schauer
über den Rücken angesichts der Beleidigung seines großen Herrn, dem
Zerstörer und Schöpfer neuen Lebens, Shiva, der allerdings in der Tat
schon länger nicht mehr zugegen war. Er sagte zu Hanuman, der nun erregt
auf dem Dach hin und her hüpfte: „Du solltest dich deiner Bestimmung
widmen, die Menschen heilen, die Welt heilen. Da ist genug zu tun!“ Der
Affengott legte die Ohren an, schwang sich hinunter zu dem Roten und
nahm einen seiner Träger bei der Hand. „Kennst du schon die große
Geschichte von meiner tollsten Heldentat in den vergangenen Zeiten? Ich
muss sie dir erzählen, dann wirst du anders ob meiner Bestimmung
denken!“ Der Rote kannte sie schon, doch aus Höflichkeit schwieg er und
ließ seine Träger von Hanuman vor die Stufen der Sonnentür führen, wo er
niedergelassen wurde und sich der Affengott neben ihn setzte.
Eine weiße Frau mit einer kugelförmigen Körperform lief
hastig durch ihr Blickfeld, ihr Oberkörper wurde von der Kamera um ihren
Hals ein wenig nach vorne über gekippt. Sie ließ ihr Motiv, welches auch
immer, nicht aus den Augen, einen preisenden Teppichhändler
wegscheuchend.
Hanuman hob an, „hör gut zu“, und fing an zu erzählen.
Er erzählte von seinem heroischen Feldzug im Auftrag des
Rama, festgehalten in dem großen hinduistischen Epos, der Ramayana. In
Urzeiten trug es sich nämlich zu, dass Hanuman, der, so ist es
überliefert, über große medizinische Kenntnisse verfügt, von Rama, dem
Helden der Ramayana, entsandt wird. Und zwar mit dem Auftrag, ein
seltenes Kraut zu suchen, welches umständlicherweise nur in der
Himalaya-Region wuchs, der höchstgelegenen Gegend auf diesem Planeten.
Hanuman machte sich also auf ins heutige Nepal, um die Berge zu
erklimmen (an dieser Stelle schaute Hanuman, der Hanuman der Gegenwart,
sehnsüchtig nach den Umrissen der Berge, doch die Menschentraube vor dem
immernoch singenden Kind verdeckte ihm die Sicht, egal welches Mosaik
sie auch bildete). Der Affengott musste viele Abenteuer überstehen,
unter anderem eine Königstochter aus den Händen eines fünfnäsigen
Tyrannen befreien und den damals noch existierenden See im heutigen
Kathmandutal überqueren. Dies alles kostete ihn einige Zeit, er erzählte
dem Roten diesen Teil sehr ausführlich. Umso schneller handelte er den
letzten Teil ab, bevor er triumphierend zur Pointe kam. Durch all die
Ablenkungen auf seinem Weg hatte er nämlich damals (ein gutes Gedächtnis
hatte er noch nie) schlicht vergessen, welches Kraut er nun genau für
Rama holen sollte. Nun stand er dort vor einem 8000-Meter-Berg mit
diesem Problem. Er konnte ja nicht mal eben zu Rama zurücklaufen und ihn
nochmal fragen, also - und nun kam das glorreichste der Geschichte, die
Pointe - Hanuman nahm einfach den ganzen Berg mit! Irgendwo auf diesem
Berg sollte das richtige Kraut schon zu finden sein... Diese gute Idee
und die Körperkraft, die es zu ihrer Ausführung bedurfte, brachte die
Brust des Affengotts bis heute zum Schwellen. Das waren noch
Heldentaten!
Der Rote blieb unbeeindruckt, musste er doch jahrjährlich
mit den Naturgewalten kämpfen, die Wolken antreiben, die
Meeresströmungen ändern und mit der Sonne verhandeln. Was war das
Versetzen eines Berges dagegen? Doch er ließ Hanuman seinen Stolz über
vergangene Taten, blickte um so mehr interessiert auf die von oben bis
unten verschleierte Frau, die mit dem Reisigbesen gebückt Staub vom
Narsingha - zum Taleju-Tempel kehrte. Sie tat dies mit einer solchen
Sorgfalt als würde sie Gewitterwolken in die richtige Position schieben.
Ihr Besen war aus dem feinem, weichem Reisig gemacht, die harten Borsten
wurden nicht an Orten wie diesen verwendet. Die Fegerin dachte sich so
einiges bei ihrer Beschäftigung. Wohin geht der Staub? Wenn er
aufgekehrt wurde, was passiert mit ihm? Wer ist verantwortlich? Hört
meine Verantwortung am Ende des Besenstils auf? Wenn nicht? Was bringe
ich heute Abend zum Reis auf den Tisch? Und dann war sie mit ihrer
Arbeit fürs Erste fertig, blickte nur ein wenig trostlos auf die Stelle,
an der nun Hanuman, ebenfalls geendet, aufsprang und Staub aufwirbelte.
„Meine Geschichte ist vorbei, Roter! Was passiert nun?“
Er hüpfte von einem Bein auf das andere und blickte erwartungsvoll in
Machhendranaths Augen. „Nun trennen sich unsere Wege für heute,
Hanuman-Ji. Ich habe noch einiges zu tun.“ Er ließ sich langsam von
seinen Trägern aufrichten, nicht ohne Eleganz, und wollte den Affengott
gebührend verabschieden.
Doch in diesem Moment ertönte eine tiefe, durchdringende
Stimmung, die für einen Moment das hege Treiben auf dem Palastplatz
verstummen ließ. „Hanuman!“ Die beiden Götter blickten in die Richtung,
aus der die Stimme gekommen war und sahen die Gestalt eines Mannes mit
Rüsselkopf, der gemächlich und würdevoll den gepflasterten Vorhof des
Palastes entlang schritt, vorbei an Garuda, welcher dies mit Adleraugen
überblickte. Ganesh, der Elefantengott, Sohn des Shiva und der Parvati,
kam den beiden Göttern entgegen, in der einen Hand einen Stoßzahn, in
der anderen drei klebrig-glänzende Laddoos. „Hanuman!“, wiederholte er.
Sein Bauch wippte ein wenig hin und her als er vor den beiden zu stehen
kam. Er blickte auf den Affengott, der sich nun etwas widerwillig und
mit einem spöttischen Ausdruck in den Augen verbeugte.
Des Roten Blick fiel in diesem Moment, als auch er sich
verbeugte (so gut es im Sitzen ging), auf den kleinen Jungen, der schon
länger vor ihnen saß, die Hände zu einer Schale geformt, der Körper nur
mit Lumpen bekleidet. Dieser Junge schien kaum auf die Menschenmenge auf
dem Platz zu achten, von der er doch so abhängig zu sein schien, sondern
schaute erstaunlich beharrlich auf das rost- und tonfarbene Muster der
Bodenplatten, auf denen Ganesh nun stand und sie durch sein Gewicht
zusammen drückte.
Ganesh schien dieser Szene und auch dem Roten kaum
Beachtung zu schenken und wandte sich ausschließlich an Hanuman, der
sich feixend wieder erhoben hatte und auf einem Bein balancierte. „Geh
zurück zu deine Statue, Hanuman!“, sagte der Elefantengott. „Wenn wir
beide in unseren Statuen fehlen, haben wir den Menschen nichts zurück zu
geben für ihre Gaben.“ Hanuman erwiderte: „Warum habt ihr euch überhaupt
von dort erhoben, Dickerchen? Jahrzehntelang haben Euch der sitzende
Zustand und die Opfergaben genügt!“ Ganesh ignorierte die
Respektlosigkeit, die er nur zu gut kannte und sagte zur Begründung:
„Ich muss nur eben nach Nandi schauen. Das Reittier meines Vaters vorne
am Vishwanath Tempel ist ein bisschen unausgelastet. Es hat die
Zerstörungskraft seines Herrn inne und ich sollte den Bullen lieber
beschäftigen..“
Hanumans Augen blitzten auf, der entstehende Lichtstrahl
spiegelte sich in der Glocke des Taleju, die sich hinter Ganesh erhob.
Er verbeugte sich wieder und sagte ehrfurchtsvoll und nicht ohne
schauspielerisches Können: „Lasst mich das erledigen, Herr, für Euch,
damit Ihr Euch weiter ausruhen könnt. Ich, mit dem vollkommenen Leib
eines Tieres, weiß doch vielleicht besser als Ihr, der Ihr - mit Verlaub
- doch nur halb Tier seid, wie mit dem selbigen umzugehen.“
Der Rote schaute misstrauisch auf ihn herab, das Gespräch
vom Anfang noch im Ohr, der Elefantengott schaute zumindest prüfend auf
Hanuman, der dort vor ihnen in gebeugter Haltung und mir eingezogenem
Schwanz saß. Die Szene wurde einen Moment lang unterbrochen als das
Glockenkonzert des Bhimsen Tempels im Norden des Platzes erklang. Die
drei Götter schauten zu dem dreistöckigen Pagodentempel, vor dem drei
Frauen, zwei in roten Kurtas und eine in Jeans und „I love New York“-
T-Shirt, die ein wenig zurückblieb, jetzt durchs Bild liefen. Der Tempel
schien die Götter zu rufen, fanden doch alle Götter, zumindest die
guten, Gefallen an dem sanften, aber durchdringenden Klang der Glocken.
Hanuman erhob als Erster wieder seine Stimme: „Seht,
Bhimsen, unser Superheld, ruft. Ihr geht ihn ein wenig besuchen und ich
kümmere mich um den Bullen.“ Ganesh starrte noch immer auf den Tempel,
indem die Glocken nun langsam verklangen. „Richtet Bhimsen einen Gruß
von mir aus, ich komme später bei ihm vorbei!“ Und der Affengott hüpfte
und sprang davon.
Der Rote, verblüfft, dass Ganesh dem dreisten Affen
keinen Einhalt gebot, sah plötzlich das Antlitz des Bhairab, der
wütenden Manifestation Shivas, vor sich aufblitzen, erst die buschigen
Augenbrauen, dann seine ganze Erscheinung in einer Mischung aus allen 64
Gestalten, von denen keine schön war, und erschrak. So plötzlich wie sie
gekommen war, verschwand Bhairabs Fratze auch wieder, stattdessen
schaute Ganesh ihn durchdringend an.
Eine in einen Sari gekleidete Frau lief mit ihrer leeren
Opferschale, die noch Spuren von roter Tikafarbe und Chamaal zeigte,
zwischen ihnen hindurch, dann schauten sich die Götter wieder in die
Augen. Der Rote wollte den Elefantengott auf die Gefahr aufmerksam
machen, die im Moment von Hanuman ausging, doch Ganesh gebot ihm zu
schweigen und sagte selbst nur: „Ich weiß es ja... Vielleicht wird es
mal wieder Zeit....?“ Und er blickte ein wenig wehmütig auf den
Palastplatz, der sich vor ihnen erstreckte und nun, in der einsetzenden
Abendsonne, in seiner ganzen Pracht erschien.
Ein LKW, der schwarzen Qualm auspuffte, fuhr an ihnen
vorbei, auf dem Weg zum „Chamber of commerce and industry centre“,
welches sich am Nordrand des Platzes befand. „Aber mache dir keine
Sorgen“, sagte Ganesh weiter. „So war es schon immer.“ „Ich weiß“, sagte
nun der Rote leise.“ Aber jetzt muss ich schnell zurück in meinen
Tempel. Ganesh-ji, ich grüße Euch.“ Er machte eine tiefe Verbeugung, in
derem tiefsten Stadium er mit seinen Trägern noch immer ein Stück größer
war als der Sohn Shivas. Dann ließ er sich gen Süden tragen und verließ
den Platz, warf der Hanuman Statue noch einen Blick zu, sie schien
diesen kess zu erwidern, dann war der Gott des Monsuns verschwunden.
Ganesh stand noch ein wenig auf dem Platz, schaute auf
das singende Mädchen, den trostlosen Sarangispieler, auf die Tauben und
die Hunde, auf die vielen Menschen, die von einem Ort zum anderen liefen
und deren Leben man so gut beobachten konnte, den beiden Elefanten, kurz
blinzelte er Garuda zu, dann schaute er weiter zum Brunnen und
schließlich galt sein letzter Blick der Frau mit den weißen Zähnen. Sie
hatte ihr Eis aufgelutscht, stand auf und warf einen kurzen, aber
bedeutenden Blick auf die Umrisse der Schneewipfel, als ob sie dort noch
etwas anderes vermutete, dann verließ sie den Palastplatz.
Begriffserklärungen:
Ort des Geschehens ist
der Durbar Square (Palastplatz) in Patan, einer der drei Königsstädte im
Kathmandutal, Nepal. Alle erwähnten Tempel und Stätten sind auf diesem
Platz oder in naher Umgebung zu finden.
Chamaal:
Ungekochter Reis.
Ciura:
Roher, zu Flocken
gepresster Reis.
Hathi:
Nepali für Elefant.
-Ji:
Männlicher Namenszusatz,
der Respekt ausdrückt.
Kurta:
Traditionelles Gewand
(ursprünglich) unverheirateter Frauen, in schlichterer Form auch von
Männern getragen.
Laddoo:
Indische Süßigkeit in
Kugelform.
Sarangi:
Das am weitesten
verbreitete einheimische Streichinstrument in Nordindien, Nepal und
Pakistan.
Tika:
Segenszeichen, das Hindus
oft auf der Stirn tragen.
Topi:
Traditionelle männliche
Kopfbedeckung (für Frauen ist es eine Todsünde, sie zu tragen).
