Der letzte Tag meines trotz aller
Wirrnisse recht durchschnittlichen Lebens war ein Mittwoch vor
ziemlich genau neun Jahren. Ich verließ die Redaktion des kleinen
Anzeigenblattes, bei dem ich damals beschäftigt war, mit der
Perspektive, wieder einen Nachmittag und Abend damit erfolglos
zubringen zu werden, mir über die Gründe, weshalb Marion mich
verlassen hatte, Klarheit zu verschaffen. Seit über einem Monat
lebte ich allein in unserer ehemals gemeinsamen Wohnung, und ich
trug mich auf dem Nachhausewege mit dem Gedanken, die
verbleibenden Stunden des Tages zu nutzen, um endlich zumindest
alle mobilen Relikte unserer Beziehung aus meinem Gesichtskreis
zu entfernen. Je näher ich meiner Wohnung kam, desto grimmiger
wurde meine Entschlossenheit, sofort die große Seemannskiste aus
dem Keller zu holen, um ihr, gleichsam in einem Bestattungsakt, all
die Bücher, Schallplatten, Zahnbürsten, Bilder, Gedichte und
Lidschattenstifte auf Nimmerwiedersehen anzuvertrauen, die mich
seit Wochen quälten. Danach wollte ich ein Lasttaxi bestellen und...
- aber es kam alles ganz anders.
Nachdem ich die Haustür
aufgeschlossen hatte, in der Absicht, sofort nach dem
Kellerschlüssel zu suchen, um meinen Entschluss in die Tat
umzusetzen, fiel mein Blick auf die am Boden verstreute Post. Zwei
Briefe zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Der eine, weil es
gerade eine dreiviertel Stunde her war, dass ich mit seinem Absender
gesprochen hatte - es war mein Chef -, und der andere, weil er
handschriftlich adressiert war. Der erste Brief enthielt die
lakonische Aufforderung »so bald wie möglich« meine
Lohnsteuerkarte mitzubringen (wir hatten Ende Mai).
Der zweite Brief veränderte alles.
Mein Denken, mein Weltbild, mein Leben,
alles hat sich seitdem radikal gewandelt.
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Aber der Reihe nach...
Durch die unerwartete Post trat mein
ursprünglicher Plan vorerst in den Hintergrund. Ich ging wie
üblich in die Küche um mir den vom Frühstück übriggebliebenen
Kaffeerest aufzuwärmen. Eine meiner ersten Anschaffungen als
Single war ein Mikrowellenherd gewesen, dessen Einsatz sich
allerdings bislang auf die Erwärmung von Getränken und das
Auftauen von Tiefkühlkost beschränkt hatte. Ich selbst schien mir
nicht der Mühe wert, frischen Kaffee zuzubereiten, was für das
Kochen generell galt, obwohl ich, wie Marions Freundin immer stolz
behauptet hatte, der beste und leidenschaftlichste Koch unter
ihren männlichen Bekannten war.
Nachdem ich unter erneutem Konsultieren
der Bedienungsanleitung den Mikrowellenherd programmiert hatte
und nur noch das penetrante Piepen ausstand, das einen
aufgewärmten kalten Kaffee verkünden würde, nahm ich die beiden
Briefe zur Hand. Der Brief meines Chefs erschien mir wichtiger, zumal
der zweite Brief keinen Absender erkennen ließ. Außerdem vermutete
ich schon seit Tagen, dass meine momentane Gemütsverfassung - mein
Chef hatte mir bereits des öfteren gedankliche Abwesenheit
attestiert - nicht ohne Konsequenzen bleiben könne. Umso
erleichterter war ich, mich lediglich an die schon zum x-ten Male
angesprochene Steuerkarte erinnert zu sehen. Ich nahm mir vor, heute
die Suche nach ihr ernsthaft aufzunehmen und wandte mich dem zweiten
Brief zu.
Er hatte das Format eines Privatbriefes,
d.h. sein Umschlag war gerade groß genug, um einem einmal längs und
einmal quer gefalteten DIN-A-4 Bogen genügend Platz zu bieten.
Keiner meiner Freunde würde einen jener von offiziellen Stellen oder
Firmen bevorzugten länglichen Briefumschläge verwenden, die das
umständlichere parallele Falten des Briefpapiers verlangten. Das
nächste, was ich routinemäßig überprüfte, war, ob sich irgendwo der
stets enttäuschende Hinweis »Drucksache« befand. Dem war nicht so,
was mich freute und mit Erwartung erfüllte, zumal der Brief als
Brief frankiert war, denn so konnte ich sicher sein, dass mich
keine als Rundschreiben versandte Einladung zu einer Vernissage
oder ähnlich langweiligen »Ereignissen« erwartete, auf denen die
Frage nach meiner Freundin in der üblichen unverbindlichen »was
macht eigentlich...?« Form sicher früher oder später gestellt worden
wäre. Über die Briefmarke weiß ich nur noch, dass sie mir nicht
aufgefallen war. Wahrscheinlich war sie eine der uninteressanten
und unästhetischen Standardmarken, die man stets dann am
Postschalter bekommt, wenn man keine besonderen Wünsche äußert.
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Nachdem es mir misslang, den Brief mit den
Fingern zu öffnen, weil er rundum bündig verklebt war, und ich mich
nicht entschließen konnte, ihn einfach aufzureißen, piepte die
Mikrowelle; aus unerfindlichen Gründen genau dreimal. Die von mir
programmierten fünfunddreißig Sekunden - genau dreißig Sekunden
waren in der Bedienungsanleitung für das Erhitzen einer Tasse
Flüssigkeit vorgeschlagen, aber ich habe es noch nie eingesehen,
weshalb das aufgrund der Fingerzahl des Menschen etablierte und
somit kontingente Dezimalsystem in allen Lebensbereichen
bestimmte Quantitäten auszeichnen sollte - waren verstrichen,
der kalte Kaffee also wieder heiß.
Ich konnte unmittelbar keinen als
Brieföffner geeigneten Gegenstand ausfindig machen, aber dies war
nicht der einzige Grund, warum ich den Brief wieder zur Seite legte. In
meinen Gedanken war ich immer noch mit der Inventur der
Hinterlassenschaften meiner ehemaligen Freundin beschäftigt.
Mir wurde mehr und mehr bewusst, dass dem erhofften Gefühl der
Befreiung - Kiste zu, Vergangenheit tot -, wenn es sich denn
überhaupt einstellen sollte, viele schmerzhafte Momente der
Erinnerung und des Abschieds vorhergehen würden. Bei meinen
diversen Umzügen hatte sich meine Schwierigkeit, mich von
gegenständlichen Zeugen meiner Vergangenheit zu trennen, immer
besonders deutlich gezeigt. Es war mir jedes Mal lieber gewesen,
hunderte von Kartons in neue Wohnungen, auf Böden, in Keller zu
schleppen, als Bücher, Schallplatten oder irgendwelchen Krimskrams,
der mir einmal etwas bedeutet hatte, der Müllabfuhr anheim zu stellen.
Mein Analytiker hatte mir schon des öfteren nahegelegt, diese
Sammelleidenschaft, dieses Aufbewahren von längst Verdautem oder
»Ausgekotztem« - wie er sich in seiner bildlichen Sprache
auszudrücken pflegte - nicht nur als Ausdruck meiner Verlust- und
Trennungsängste, meines nicht in mir konsolidierten
Selbstwertgefühls oder meiner »typisch maskulin
linear-progressiven Lebenskonzeption«, zu sehen, die es mir - so
eine seiner Thesen - nicht erlaubt, einmal Erlebtes, Erworbenes,
Gewusstes, Verstandenes wieder zu verlieren, aufzugeben oder zu
vergessen, sondern auch als ein weiteres Indiz für das zu begreifen,
was er die »Uneigentlichkeit« meines Lebens nannte. Dieses
Wort - eines seiner Lieblingswörter, zumindest wenn es um mich ging -
hatte mich immer verblüffend an den Jargon Adornos erinnert.
Verblüffend deshalb, weil mir die Frankfurter Schule
(nachdem ich sie »verließ«) immer allzusehr am Narzißmus, verbunden
mit einer intoleranten Disziplinlosigkeit des Denkens zu kränkeln
schien, und damit in meinen Augen genau die Eigenschaften
hatte, die meinem Analytiker am meisten zuwider waren. Ich habe bis
heute nicht verstanden, was genau er eigentlich mit
»Uneigentlichkeit« meinte, obwohl ich stets fühlte und in einem
gewissen Sinne auch wusste, dass kein anderer Begriff die
Grundstimmung meines damaligen Lebens hätte trefflicher
beschreiben können. Aber zurück zu jenem mysteriösen Brief.
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Ich tat mich also schwer damit, die
Aufräumarbeiten in Angriff zu nehmen, und zögerte deshalb die
Öffnung des Briefes hinaus. Möglicherweise hatte ich die vage
Hoffnung, ich könnte mich aufgrund seines Inhalts genötigt sehen,
meine Pläne für den verbleibenden Teil des Tages zu ändern, und
wollte mir diese nicht allzu schnell nehmen. Dieser unbewusste Wunsch -
ich hatte schon seit langem gelernt, mir Wünsche, Absichten,
Befürchtungen, Meinungen usw. zuzuschreiben, die ich bewusst nie
hatte, die mir sogar verwerflich, unbegründet oder falsch
erschienen - dieser unbewusste Wunsch hat sich dann auch auf eine
völlig unvorhersehbare Weise verwirklicht.
Ich holte meinen Kaffeebecher aus der
Mikrowelle und setzte mich ans Küchenfenster, von dem aus ich einen
guten Blick auf das gegenüberliegende Bistro habe. Wieder
schweiften meine Gedanken ab zu jenem Abend, an dem Marion und ich unser
als »klärend« deklariertes Gespräch hatten. Ich erinnerte mich genau
an ihr »ab jetzt nicht mehr« als Antwort auf die immer gleiche,
mangelhafte Deutschkenntnisse offenbarende Frage des Wirts:
»Dasselbe wie immer?«. Ich hatte es seit diesem Abend nicht mehr über
mich gebracht, das Bistro zu betreten, wie ich überhaupt jeden Platz
mied, an dem man mich, an dem man uns kannte.
Es half nichts. Ich musste mich wieder
unter Menschen begeben können, ich musste endlich aufhören, mich
selbst unter einen Rechtfertigungsdruck zu setzen (»ihr wart doch
das ideale Paar, wie konnte es denn bloß dazu kommen«), ich musste
lernen, auf Mitleids- und Verständnisäußerungen nicht aggressiv zu
reagieren (»ich weiß genau, wie Dir zumute ist«) ich musste wieder ein
normales Leben führen können; und eine Voraussetzung dafür war, dass
ich meiner Vergangenheit und meinem Schmerz nicht mehr ausweichen
würde.
Das einzige was mich in diesem Moment noch
davon abhielt, ihre übriggebliebenen Utensilien zusammenzusuchen und
endlich in meiner Wohnung Klarschiff zu machen, war der Brief, den ich
in den Händen hielt. Ich ergriff die auf der Fensterbank liegende
Nagelschere, und während ich sie zum Aufschneiden ansetzte, betrachtete
ich noch einmal den Umschlag. Schon an der Haustür, als ich ihn zum
ersten Mal gesehen hatte, schien mir die Handschrift seltsam vertraut
zu sein. Mein erster Gedanke hatte, wie hätte es anders sein können,
Marion gegolten, aber nachdem ich sie innerhalb eines
Sekundenbruchteils als Absenderin ausgeschlossen hatte (ihre
ausgeprägte und filigrane Handschrift ähnelte nicht im Entferntesten
der kindlich anmutenden auf dem Umschlag), habe ich dem Schriftbild
keine weitere Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Jetzt jedoch fiel es mir
wie Schuppen von den Augen: Es war meine Handschrift, der Brief
war in meiner eigenen Handschrift adressiert.
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Meine erste Reaktion war eine relativ
gelassene Verwunderung. Fast schmunzelt suchte ich zunächst die
Erklärung in meiner Zerstreutheit, welche Freunde und Kollegen mir in
den letzen Tagen oft (und von mir jedesmal mit einem wohl doch
ungerechtfertigten Dementi erwidert) attestiert hatten: Offenbar hatte
ich geistesabwesend meine Anschrift auf einen Umschlag geschrieben, der
einen Brief für »wer weiß wen« enthielt. Aber auch meinen eigenen Vor-
und Zunamen? Nein. Eine solche Fehlleistung schloss ich definitiv aus.
Ich versuchte, die spärlichen Spuren des Poststempels zu lesen, konnte
aber den Absendeort nicht entziffern. Lediglich die aktuelle Monats- und
Jahreszahl waren deutlich erkennbar. Der Brief war also erst vor kurzem
aufgegeben worden.
Ein diffuses Gefühl der Beunruhigung
ergriff mich, und schnell versuchte ich mich - vergeblich - zu erinnern,
ob ich mir, vielleicht aus der Firma, selbst etwas geschickt hätte, um
so möglicherweise... ja, was eigentlich? Ich hatte mir noch nie selbst
geschrieben und - Zerstreutheit hin und her - es ergäbe auch keinen
Sinn, da ich seit geraumer Zeit nach der Arbeit immer nach Hause
gekommen war und auch nie etwas anderes vorgehabt hatte; warum sollte
ich mir also selbst etwas geschickt haben, was ich doch hätte gleich
mitnehmen können?
Die Beunruhigung wuchs, als mir klar
wurde, dass ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte, in den
letzten Tagen (und Wochen) überhaupt einen Brief (zumal
handschriftlich adressiert) geschrieben oder abgeschickt zu haben.
Was ich in den Händen hielt, stammte nicht
von mir!
Und dennoch, es war meine
Handschrift! Ich betrachtete den Umschlag noch einmal genau. Es gab
keinen Zweifel. Jedes Detail des Schriftzugs stimmte. Und nicht nur das,
auch die Art und Weise wie die Anschrift plaziert war, der freihändig
und dennoch gerade gezogene Strich unter der Postleitzahl und dem
Ort, die, einen billigen Kugelschreiber verratende Farbe und Linie:
Alles entsprach so haargenau meinen eigenen Gewohnheiten,
dass ich mich einen Augenblick lang bang fragte, ob ich nicht doch
vielleicht selbst...; aber das konnte nicht sein. Weder ich noch mein
Analytiker hatten jemals auch nur das kleinste Anzeichen für
Schizophrenie an mir feststellen können. Nein, die Erklärung musste
irgendwo anders liegen. Meine Verwirrung war vollständig.
Mit zittrigen Händen schnitt ich den
Umschlag auf und entnahm ihm einen weißen, akkurat gefalteten und
auch ansonsten völlig normalen DIN-A-4-Bogen, der etwa bis zur Hälfte
maschinell beschrieben war. Meine erste Reaktion war die
Erleichterung darüber, nicht erneut meine eigene Handschrift zu
erblicken. Auch war das Schriftbild weder das meiner alten
mechanischen Schreibmaschine, noch glich es dem der elektrischen,
die wir damals in der Redaktion verwendeten. Erst nachdem ich dies
überprüft hatte, begann ich zu lesen. Ich benötige nicht die
Aufzeichnungen meines Analytikers, um den Inhalt des Briefes
korrekt wiederzugeben. Niemals werde ich vergessen, mit welchen
Worten alles anfing. Auf dem Papier stand:
< nach oben >
ES IST
DEM VORSCHLAG UND DER FÜRSPRACHE EINES AKASHASTEN ZU VERDANKEN, DASS
IHNEN EIN SEHR SELTENES UND EHRENVOLLES ANGEBOT UNTERBREITET WERDEN
KANN, WELCHES, SO SIE SICH DENN BEREIT FÜHLEN UND GENÜGEND MUT UND
ENTSCHLOSSENHEIT AUFBRINGEN KÖNNEN, UM DIE DAMIT VERBUNDENE
VERANTWORTUNG UND GEFAHR AUF SICH ZU NEHMEN, ERKENNTNISSE UND
EINSICHTEN GARANTIERT, DIE NUR SEHR WENIGEN PERSONEN ZUTEIL WERDEN UND
DAS MENSCHLICHE MASS DES VORSTELLBAREN WEIT ÜBERSCHREITEN.
IHRE GEGENLEISTUNG IST NICHT MATERIELLER
ART.
KOMMEN
SIE (NUR SIE !) MORGEN UM 2000 UHR
IN DAS RESTAURANT DES HIESIGEN »INTERCONTINENTAL« HOTELS.
EIN GROSSES ABENTEUER STEHT IHNEN BEVOR.
P.S.:
LESEN SIE ALLES NOCH EINMAL; PRÄGEN SIE SICH ORT UND ZEITPUNKT EIN.
UM
NICHT IN UNBEFUGTE HÄNDE ZU GERATEN, WIRD DIESER BRIEF VERSCHWINDEN.
FASSEN SIE DIES ALS EIN ZEICHEN SEINER WAHRHEIT AUF!
Auch nachdem ich den Brief ein zweites Mal
gelesen hatte, blieb ich ratlos. Hätte ich nur den Bogen in der Hand
gehabt, wäre es ein Leichtes gewesen, ihn als einen wenn auch noch
unverständlichen Scherz, eine Spinnerei, als Werbung für irgendeine
obskure Sekte, auf jeden Fall als etwas nicht Ernstzunehmendes zu
betrachten; aber da war noch der Umschlag mit meiner Handschrift. Der
Absender musste mich sehr gut kennen, möglicherweise selber
Privatbriefe von mir erhalten (beruflich benutzte ich nur die
Schreibmaschine) vor allem aber keine Mühe gescheut haben, um -
möglicherweise mit Hilfe eines Graphologen - Schrift und Stil perfekt zu
imitieren. Im Geiste ging ich alle Leute durch, denen ich in den
letzten Jahren etwas Handschriftliches habe zukommen lassen,
insbesondere diejenigen, denen ich einen Sinn für Dramatik oder einen
Hang zur Esoterik, zur Mystik, zum Okkulten unterstellte (der
Begriff »Akashast« ließ mich diffus in diese Richtung assoziieren),
doch da ich im Unklaren über den Zweck des Schreibens war, blieb ich
ohne Vermutung. Besonders die Passage mit dem »Verschwinden« des
Briefes, die allzusehr nach James Bond klang, schien mir dann
doch zu dick aufgetragen, um sie einen meiner Freunde zu
unterstellen. Außerdem bestätigte sie mich in der bequemen Vermutung,
jemand wolle sich einen »Scherz« mit mir erlauben.
< nach oben >
Ich hatte jedoch nur ungefähr fünf Minuten
Zeit meinen Gedanken nachzugehen, bevor das Telephon klingelte. Es war
Marion und ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern
sollte, dass sie meine Überlegungen unterbrach. Sie benötigte für ein
Referat in Psychologie das Geleitwort von C. G. Jung zum Bardo
Thödol, dem Tibetischen Totenbuch, das sie noch irgendwo in
meinen Regalen wähnte, und bat mich darum, es für sie
herauszusuchen. Mit »Ich komme dann so in 'ner Stunde vorbei, o.k.?«
beendete sie das Gespräch, ohne eine Antwort abzuwarten. Scheinbar
schien es ihr undenkbar, dass ich etwas anderes vorhaben könnte, oder
nicht sofort bereit wäre, aufgrund ihrer Ankündigung vorbeizukommen,
alles andere abzublasen. Ich war wütend über die
Selbstverständlichkeit, mit der sie offenbar meinte, über meine Zeit
bestimmen zu können, und vergaß darüber zunächst den Brief. Doch die Wut
hielt nicht lange vor.
Ich verstehe bis heute nicht, weshalb mich
trotz meiner damaligen Stimmung, meiner Einsicht in die Dynamik
unserer Beziehung und entgegen meinen festen Vorsätzen, die Aussicht
auf das erste Wiedersehen mit Marion nach ihrem Auszug offenbar auch
in freudige Erregung versetzte, da ich alles stehen und liegen ließ,
und sofort die Suche nach ihrem Buch aufnahm. Ich brauchte nicht lange,
um es auf dem obersten Regal direkt unter der Decke zu erspähen. Die
Leiter stand auf dem Balkon. Auf dem Weg dahin kam ich am Badezimmer
vorbei und konnte nicht umhin, mich ganz entgegen meiner Gewohnheit
ein zweites Mal zu rasieren und ein after shave aufzutragen.
Schließlich fand ich mich mit einem frischen Hemd auf der Leiter wieder
– im Betrachten einer Ansichtskarte (von mir an Marion) aus San
Francisco versunken, die ihr offensichtlich als Lesezeichen gedient
hatte - als ich durch das vertraute dreimalige Türklingeln aus meinen
Träumereien gerissen wurde.
Ich musste wohl beinahe eine dreiviertel
Stunde auf der Leiter verbracht haben, in Erinnerungen schwelgend, denn
Marion kam niemals früher als angekündigt. Ich bemühte mich, ein
möglichst gleichgültiges Gesicht zu machen, nahm auf dem Weg zur Tür
noch schnell einen Schraubendreher in die Hand, um beschäftigt zu
wirken, und drückte, ohne mich durch die Sprechanlage zu
vergewissern, ob es tatsächlich Marion war, auf den
automatischen
Haustüröffner. Aus dem
Treppenhaus herauf vernahm ich ihre Stimme: »Bist du so gut und bringst
mir das Buch kurz 'runter« - auch dies keine Frage, sondern eine
Aufforderung - »ich versperre mit meinem Wagen die Straße«.
Diesmal konnte ich keine Ruhe bewahren.
Aufgebracht lief ich zu ihr herunter und schrie sie an, sie solle sich
ihr verdammtes Buch gefälligst selbst holen (es läge auf dem
Schreibtisch) und dabei gleich auch den anderen Mist mitnehmen, der von
ihr noch bei mir herumliege; ich würde mich schon um einen Parkplatz
für ihre Schrottkarre kümmern.
< nach oben >
Ohne Wort und Blick ging sie an mir
vorbei in das Haus und ich setzte mich in‘s Auto.
Auf ihrer Stereoanlage (von mir
zusammengebastelt und eingebaut) lief eine Kassette mit Erik Satie
(von mir für ihr Auto aufgenommen), dessen Musik in diesem Moment wohl
den Ausschlag dafür gab, dass meine Wut einer angenehm distanzierten
Melancholie wich. Ein Bekannter von uns verließ das Bistro und warf mir
noch einen grüßenden Blick zu, bevor er in seinen Wagen stieg. Mir war
egal, was er gedacht haben mag, als er mich in Marions Auto sah;
sollten sie doch alle anrufen und fragen, ob wir uns wieder versöhnt
hätten, das nein wird mir leicht von den Lippen kommen. Ich fuhr
in die Parklücke, stellte den Motor aus und lauschte noch ein paar
Minuten der Klaviermusik. Dabei stellte ich fest, dass der Aschenbecher
voll filterloser Zigarettenstummel war; entweder musste Marion
wieder das Rauchen angefangen haben, oder öfter einen Raucher als
Beifahrer haben (ich dachte dabei sofort an einen Mann), es kümmerte
mich jedoch nicht weiter.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen
war (die Kassette war abgelaufen), als ich Marion im Rückspiegel
erblickte. Sie trug einen Haufen Sachen in einem Wäschekorb mit sich;
es war wohl der, den sie von ihrer Freundin vor Jahren randvoll mit
Ostereiern geschenkt bekommen hatte (Marion hat im April Geburtstag),
was uns beide Magenbeschwerden und einige zusätzliche Pfunde
einbrachte. Nun gut, auch der Korb wird mich zukünftig nicht mehr mit
Erinnerungen traktieren. Sie versuchte, ihn in den wie immer mit
diversen Sachen kunterbunt gefüllten Kofferraum unterzubringen, wobei
sie sich von mir nicht helfen lassen wollte, sagte noch, ich müsse meine
Wohnung »‘mal wieder aufräumen« (wie recht sie damit hatte, sah ich
erst nachdem ich wieder in der Wohnung war, in der sie auf der
Suche nach ihren Sachen alles durcheinander gebracht hatte),
verabschiedete sich mit einem »Bis dann...« (wann ?) und fuhr davon.
Ich ging zurück in die Wohnung, die mir
wie ein verlassenes Schlachtfeld vorkam, und begann damit, etwas
Ordnung zu schaffen. Irgendwie fühlte ich mich befreit, obwohl der
Rauch in der Luft (also doch kein anderer Mann !) zunächst noch
unangenehm an Marions Auftritt erinnerte. Während des Aufräumens war
ich in einer fast euphorischen Stimmung, die jedoch nach einiger Zeit
einer merkwürdigen Empfindung von Leere wich. Obendrein hatte ich das
undeutliche Gefühl, etwas Wichtiges vergessen oder unerledigt gelassen
zu haben. Mir stand der Abend bevor und ich führte meine Stimmung auf
die noch immer ungewohnte Situation zurück, ihn mir selbst, ohne
Vorschlag, Direktive oder Disput gestalten zu können, zu müssen. Als ich
in meinen Überlegungen bei der Frage anlangte, was ich eigentlich am
vorhergehenden Abend getan, nein, gelesen hatte, fiel mir der Brief
wieder ein.
< nach oben >
Ich ging in die Küche um ihn noch einmal
zu lesen, aber er war - verschwunden. Auch den Umschlag konnte ich
nicht finden. Auf dem Tisch lagen nur noch die Nagelschere und der
Brief meines Chefs, ansonsten das übrige Chaos, das ich mehrmals
erfolglos durchsuchte. Mich überlief ein Schauder und ich bekam eine
Gänsehaut.
Obwohl ich mir völlig sicher war, ihn in
der Küche gelassen zu haben, durchsuchte ich mit zunehmender
Nervosität sorgfältigst auch die anderen Zimmer (einschließlich des
Badezimmers und meines gewechselten Hemdes).
Nach über einer Stunde gab ich es auf und
rief Marion an. Sie hatte ihre Sachen schon längst ausgepackt und
keinen Brief gefunden. Ich bat sie, noch einmal genau im Bardo
Thödol nachzusehen, aber sie fand lediglich die Ansichtskarte mit
der Golden Gate Bridge. Darüber hinaus schwor sie Stein und Bein, meine
Küche überhaupt nicht betreten zu haben (»Die nehm' ich mir ein anderes
Mal vor«).
Dann wollte sie noch wissen, was für ein
bedeutender Brief es denn gewesen sei, da sie hinter meinem Anruf (dem
ersten seit Wochen) wohl andere Gründe vermutete, aber ich erzählte
ihr nur irgend etwas von einem Rechtsstreit wegen eines
Zeitschriftenabonnements und tat ihr nicht den Gefallen, auf unser
»Treffen« einzugehen. Danach haben wir nie wieder über den Brief
gesprochen.
Nachdem ich aufgelegt hatte überprüfte ich
kurz den Verdacht, Marion könne irgendwie hinter der ganzen Sache
stehen, und kam zu dem Schluss, dass dies völlig absurd war.
Schließlich hatte ich sie entgegen ihrer ursprünglichen Absicht
bewogen, in meine Wohnung zu kommen, was sie also nicht eingeplant haben
konnte, um den Brief zu entwenden. Außerdem hätte ich ihn ja auch bei
mir tragen können. Und abgesehen von der Tatsache, dass dies alles
überhaupt nicht zu Marion passte, war sie eine sehr schlechte
Schauspielerin. Ich hatte sie immer durchschaut, wenn sie mir etwas
vorflunkern oder verheimlichen wollte, und ihr ganzer Auftritt heute,
ihre Worte am Telephon, schienen mir absolut authentisch gewesen zu
sein. Nein, Marion hatte damit nichts zu tun.
Der Brief war verschwunden.
Mir war auf einmal sehr unheimlich zu
Mute.
< nach oben >
Fortsetzung
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