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Gespräche mit dem GESANDTEN

I Die Kontaktaufnahme

1. Der Brief

Der letzte Tag meines trotz aller Wirr­nisse recht durch­schnitt­li­chen Lebens war ein Mitt­woch vor ziem­lich genau neun Jahren. Ich verließ die Re­dak­tion des klei­nen An­zei­gen­blattes, bei dem ich da­mals beschäftigt war, mit der Per­spektive, wieder ei­nen Nach­mit­tag und Abend damit er­folg­los zubringen zu werden, mir über die Grün­de, wes­halb Marion mich ver­las­sen hat­te, Klar­heit zu ver­schaf­fen. Seit über einem Monat lebte ich allein in un­serer ehe­mals ge­mein­samen Wohnung, und ich trug mich auf dem Nach­hause­wege mit dem Ge­dan­ken, die ver­blei­ben­den Stun­den des Ta­ges zu nut­zen, um end­lich zu­min­dest alle mo­bilen Re­likte unse­rer Be­zie­hung aus mei­nem Ge­sichts­kreis zu ent­fer­nen. Je näher ich mei­ner Wohnung kam, des­to grim­miger wurde meine Ent­schlos­sen­heit, so­fort die große See­manns­kiste aus dem Kel­ler zu holen, um ihr, gleich­sam in einem Be­stat­tungs­akt, all die Bü­cher, Schall­plat­ten, Zahn­bürs­ten, Bil­der, Ge­dichte und Lid­schatten­stifte auf Nim­mer­­wieder­sehen an­zu­ver­trauen, die mich seit Wochen quälten. Da­nach wollte ich ein Last­taxi be­stel­len und... - aber es kam alles ganz anders.

Nach­dem ich die Haus­tür auf­ge­schlos­sen hatte, in der Ab­sicht, so­fort nach dem Kel­ler­schlüs­sel zu suchen, um mei­nen Entschluss in die Tat um­zu­set­zen, fiel mein Blick auf die am Boden ver­streu­te Post. Zwei Brie­fe zo­gen meine Auf­merk­sam­keit auf sich. Der eine, weil es gerade eine drei­viertel Stunde her war, dass ich mit seinem Ab­sen­der ge­spro­chen hatte - es war mein Chef -, und der ande­re, weil er hand­schrift­lich adres­siert war. Der erste Brief ent­hielt die lako­nische Auf­for­de­rung »so bald wie mög­lich« meine Lohn­steu­er­­karte mit­zu­brin­gen (wir hatten Ende Mai).

Der zweite Brief veränderte alles.

Mein Denken, mein Welt­bild, mein Leben, alles hat sich seitdem ra­di­kal ge­wan­delt.

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Aber der Reihe nach...

Durch die un­erwarte­te Post trat mein ur­sprün­gli­cher Plan vor­erst in den Hin­ter­grund. Ich ging wie üblich in die Küche um mir den vom Früh­stück übrig­geblie­be­nen Kaffee­rest auf­zu­wärmen. Eine meiner er­sten An­schaf­fungen als Single war ein Mikro­wel­len­herd gewesen, des­sen Ein­satz sich aller­dings bis­lang auf die Er­wärmung von Ge­trän­ken und das Auf­tauen von Tief­kühl­kost be­schränkt hatte. Ich selbst schien mir nicht der Mühe wert, frischen Kaffee zu­zu­be­rei­ten, was für das Kochen generell galt, ob­wohl ich, wie Marions Freun­din im­mer stolz be­hauptet hatte, der bes­te und lei­den­schaft­lichs­te Koch unter ihren männ­li­chen Be­kann­ten war.

Nachdem ich unter er­neutem Kon­sultieren der Be­die­nungs­anlei­tung den Mikro­wellen­herd pro­gram­miert hatte und nur noch das pe­netran­te Piepen aus­stand, das einen auf­ge­wärm­ten kalten Kaffee ver­künden würde, nahm ich die bei­den Brie­fe zur Hand. Der Brief meines Chefs er­schien mir wichti­ger, zumal der zweite Brief kei­nen Ab­sen­der er­kennen ließ. Außer­dem ver­mutete ich schon seit Tagen, dass meine momen­tane Ge­müts­verfas­sung - mein Chef hatte mir bereits des öfteren ge­dank­liche Ab­wesen­heit attes­tiert - nicht ohne Kon­sequen­zen bleiben könne. Umso erleichterter war ich, mich ledig­lich an die schon zum x-ten Male ange­spro­chene Steuer­karte er­innert zu sehen. Ich nahm mir vor, heute die Suche nach ihr ernst­haft auf­zu­neh­men und wandte mich dem zweiten Brief zu.

Er hatte das Format eines Privat­briefes, d.h. sein Umschlag war ge­rade groß genug, um einem einmal längs und einmal quer gefal­­te­ten DIN-A-4 Bogen ge­nügend Platz zu bieten. Keiner meiner Freun­de würde einen jener von offiziel­len Stel­len oder Firmen be­vor­zug­ten läng­lichen Brief­um­schläge ver­wenden, die das um­ständ­liche­re paral­lele Fal­ten des Brief­papiers verlang­ten. Das nächste, was ich rou­ti­ne­mäßig überprüfte, war, ob sich irgendwo der stets ent­täu­schen­de Hinweis »Drucksache« befand. Dem war nicht so, was mich freu­­te und mit Er­war­tung erfüllte, zumal der Brief als Brief fran­kiert war, denn so konnte ich sicher sein, dass mich keine als Rund­schrei­­ben versandte Ein­ladung zu einer Ver­nissage oder ähnlich lang­wei­ligen »Er­eig­nis­sen« erwartete, auf denen die Frage nach mei­ner Freun­din in der üb­lichen unver­bind­lichen »was macht eigent­lich...?« Form sicher früher oder später ge­stellt worden wäre. Über die Brief­marke weiß ich nur noch, dass sie mir nicht auf­ge­fal­len war. Wahr­schein­lich war sie eine der un­interessan­ten und un­äs­the­­ti­schen Standard­mar­ken, die man stets dann am Post­schalter be­kommt, wenn man keine beson­de­ren Wün­sche äußert.

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Nachdem es mir misslang, den Brief mit den Fin­gern zu öff­nen, weil er rund­um bündig verklebt war, und ich mich nicht ent­schließen konnte, ihn einfach auf­zu­reißen, piepte die Mikro­welle; aus un­er­find­li­chen Grün­den genau dreimal. Die von mir pro­gram­mier­ten fünf­und­dreißig Sekunden - genau dreißig Sekunden waren in der Be­die­nungs­an­lei­tung für das Er­hit­zen einer Tasse Flüs­sigkeit vor­ge­schla­gen, aber ich habe es noch nie ein­ge­se­hen, weshalb das auf­grund der Fin­ger­zahl des Men­schen etablier­te und somit kon­tin­gente Dezi­mal­system in allen Le­bens­berei­chen be­stimmte Quan­ti­tä­ten aus­zeich­nen sollte - wa­ren ver­stri­chen, der kal­te Kaffee also wieder heiß.

Ich konnte unmittelbar keinen als Brief­öffner ge­eigne­ten Gegen­stand aus­fin­dig machen, aber dies war nicht der ein­zige Grund, warum ich den Brief wieder zur Seite legte. In mei­nen Ge­danken war ich immer noch mit der In­ven­tur der Hin­ter­las­sen­schaf­ten meiner ehe­mali­gen Freun­din be­schäf­tigt. Mir wurde mehr und mehr bewusst, dass dem erhoff­ten Gefühl der Be­frei­ung - Kiste zu, Ver­gan­gen­heit tot -, wenn es sich denn über­haupt ein­stel­len sollte, viele schmerz­haf­te Mo­mente der Er­in­ne­rung und des Ab­schieds vor­her­ge­hen wür­den. Bei meinen di­ver­sen Um­zü­gen hatte sich mei­ne Schwierigkeit, mich von gegen­ständ­lichen Zeu­gen mei­ner Ver­gan­genheit zu trennen, immer be­son­ders deut­lich ge­zeigt. Es war mir jedes Mal lieber gewe­sen, hun­der­te von Kartons in neue Wohnun­gen, auf Böden, in Keller zu schlep­pen, als Bücher, Schall­plat­ten oder irgend­welchen Krims­krams, der mir einmal etwas be­deutet hatte, der Müll­abfuhr anheim zu stellen. Mein Ana­lyti­ker hatte mir schon des öfteren nahe­gelegt, die­se Sam­mel­lei­den­schaft, dieses Auf­bewahren von längst Ver­dau­tem oder »Aus­ge­kotz­tem« - wie er sich in seiner bild­lichen Sprache aus­zu­drücken pfleg­te - nicht nur als Aus­druck mei­ner Verlust- und Tren­nungs­ängste, meines nicht in mir kon­so­lidier­ten Selbst­wert­gefühls oder meiner »typisch mas­kulin li­ne­ar-pro­gres­­siven Lebens­kon­zeption«, zu sehen, die es mir - so eine seiner The­sen - nicht er­laubt, einmal Er­leb­tes, Erwor­benes, Ge­wusstes, Ver­stande­nes wie­der zu ver­lieren, auf­zu­ge­ben oder zu ver­gessen, sondern auch als ein weiteres Indiz für das zu be­grei­fen, was er die »Un­eigentlich­keit« mei­nes Lebens nann­te. Die­ses Wort - eines seiner Lieb­lings­wörter, zu­mindest wenn es um mich ging - hatte mich immer ver­blüffend an den Jargon Adornos erinnert. Ver­blüf­fend des­halb, weil mir die Frank­furter Schu­le (nach­dem ich sie »verließ«) immer allzu­sehr am Narzißmus, ver­bun­den mit einer in­toleran­ten Dis­ziplin­losig­keit des Den­kens zu krän­keln schien, und damit in meinen Au­gen genau die Ei­gen­schaf­ten hatte, die meinem Analy­tiker am meisten zu­wider waren. Ich habe bis heute nicht ver­stan­den, was genau er eigentlich mit »Un­ei­gent­lich­keit« meinte, obwohl ich stets fühlte und in einem ge­wis­sen Sin­ne auch wusste, dass kein anderer Begriff die Grund­stim­mung mei­nes da­ma­li­gen Lebens hätte trefflicher be­schrei­ben kön­nen. Aber zu­rück zu jenem mysteriösen Brief.

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Ich tat mich also schwer damit, die Auf­räum­arbei­ten in An­griff zu neh­men, und zögerte deshalb die Öffnung des Briefes hinaus. Mög­li­cher­weise hatte ich die vage Hoffnung, ich könnte mich auf­grund sei­nes Inhalts genötigt sehen, meine Pläne für den ver­blei­ben­den Teil des Tages zu ändern, und wollte mir diese nicht all­zu schnell nehmen. Dieser unbewusste Wunsch - ich hatte schon seit langem ge­lernt, mir Wünsche, Ab­sich­ten, Be­fürch­tun­gen, Mei­nun­gen usw. zu­zu­schrei­ben, die ich bewusst nie hat­te, die mir sogar ver­werflich, un­begrün­det oder falsch er­schie­nen - dieser unbewusste Wunsch hat­­ sich dann auch auf eine völ­lig un­vor­her­seh­bare Weise ver­wirk­licht.

Ich holte meinen Kaffeebecher aus der Mikrowelle und setzte mich ans Kü­chenfenster, von dem aus ich einen guten Blick auf das gegen­über­­lie­gen­de Bistro habe. Wieder schweiften meine Gedanken ab zu jenem Abend, an dem Marion und ich unser als »klärend« de­kla­riertes Gespräch hatten. Ich erinnerte mich genau an ihr »ab jetzt nicht mehr« als Antwort auf die im­mer gleiche, man­gel­haf­te Deutsch­kenntnisse offenbarende Frage des Wirts: »Das­sel­be wie immer?«. Ich hatte es seit diesem Abend nicht mehr über mich gebracht, das Bistro zu betreten, wie ich über­haupt jeden Platz mied, an dem man mich, an dem man uns kannte.

Es half nichts. Ich musste mich wieder unter Men­schen begeben kön­nen, ich musste endlich aufhören, mich selbst unter einen Recht­fer­ti­gungs­druck zu set­zen (»ihr wart doch das ideale Paar, wie konnte es denn bloß dazu kommen«), ich musste lernen, auf Mit­leids- und Ver­ständ­nis­äußerun­gen nicht aggres­siv zu reagieren (»ich weiß genau, wie Dir zumute ist«) ich musste wieder ein normales Leben führen kön­nen; und eine Vor­aus­set­zung dafür war, dass ich mei­ner Ver­gan­gen­heit und mei­nem Schmerz nicht mehr aus­wei­chen würde.

Das einzige was mich in diesem Moment noch davon abhielt, ihre übrig­ge­­blie­benen Utensilien zusammenzusuchen und endlich in mei­ner Woh­nung Klarschiff zu machen, war der Brief, den ich in den Händen hielt. Ich ergriff die auf der Fens­terbank liegende Nagelschere, und während ich sie zum Aufschneiden ansetzte, betrachtete ich noch ein­mal den Umschlag. Schon an der Haustür, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, schien mir die Hand­schrift seltsam vertraut zu sein. Mein erster Ge­danke hatte, wie hätte es anders sein können, Marion gegolten, aber nach­dem ich sie inner­halb ei­nes Sekundenbruchteils als Absenderin aus­geschlossen hatte (ihre ausgeprägte und filigrane Hand­schrift ähnel­te nicht im Entferntesten der kind­lich anmu­ten­den auf dem Um­schlag), habe ich dem Schrift­bild keine weitere Aufmerksamkeit mehr ge­schenkt. Jetzt je­doch fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Es war meine Hand­schrift, der Brief war in meiner eigenen Hand­schrift adres­siert.

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Meine erste Reaktion war eine relativ gelassene Verwunderung. Fast schmunzelt suchte ich zunächst die Erklärung in meiner Zerstreutheit, welche Freunde und Kollegen mir in den letzen Tagen oft (und von mir jedesmal mit einem wohl doch ungerechtfertigten Dementi erwidert) attestiert hatten: Offenbar hatte ich geistesabwesend meine Anschrift auf einen Umschlag geschrieben, der einen Brief für »wer weiß wen« enthielt. Aber auch meinen eigenen Vor- und Zunamen? Nein. Eine solche Fehlleistung schloss ich definitiv aus. Ich versuchte, die spärlichen Spuren des Poststempels zu lesen, konnte aber den Absendeort nicht entziffern. Lediglich die aktuelle Monats- und Jahreszahl waren deutlich erkennbar. Der Brief war also erst vor kurzem aufgegeben worden.

 Ein diffuses Gefühl der Beunruhigung ergriff mich, und schnell versuchte ich mich - vergeblich - zu erinnern, ob ich mir, vielleicht aus der Firma, selbst etwas geschickt hätte, um so möglicherweise... ja, was eigentlich? Ich hatte mir noch nie selbst geschrieben und - Zerstreutheit hin und her - es ergäbe auch keinen Sinn, da ich seit geraumer Zeit nach der Arbeit immer nach Hause gekommen war und auch nie etwas anderes vorgehabt hatte; warum sollte ich mir also selbst etwas geschickt haben, was ich doch hätte gleich mitnehmen können?

Die Beunruhigung wuchs, als mir klar wurde, dass ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte, in den letzten Tagen (und Wochen) überhaupt einen Brief (zumal handschriftlich adressiert) geschrieben oder abgeschickt zu haben.

Was ich in den Händen hielt, stammte nicht von mir!

Und dennoch, es war meine Handschrift! Ich betrachtete den Umschlag noch einmal genau. Es gab keinen Zweifel. Jedes Detail des Schriftzugs stimmte. Und nicht nur das, auch die Art und Weise wie die Anschrift plaziert war, der freihändig und dennoch gerade ge­zo­gene Strich unter der Post­leit­zahl und dem Ort, die, einen bil­ligen Kugel­schrei­ber ver­rate­nde Farbe und Linie: Alles ent­sprach so haar­genau mei­nen ei­genen Ge­wohn­hei­ten, dass ich mich einen Au­gen­blick lang bang fragte, ob ich nicht doch vielleicht selbst...; aber das konnte nicht sein. Weder ich noch mein Analytiker hatten jemals auch nur das kleinste An­zei­chen für Schizo­phre­nie an mir fest­stel­len können. Nein, die Erklärung musste irgendwo anders liegen. Meine Ver­wir­rung war voll­stän­dig.

Mit zittri­gen Hän­den schnitt ich den Um­schlag auf und entnahm ihm einen weißen, akkurat ge­fal­te­ten und auch ansonsten völlig nor­malen DIN-A-4-Bogen, der etwa bis zur Hälfte maschi­nell be­schrie­ben war. Meine erste Re­aktion war die Er­leich­te­rung dar­über, nicht er­neut mei­ne ei­gene Hand­schrift zu er­blicken. Auch war das Schrift­bild we­der das meiner alten mecha­nischen Schreib­ma­schine, noch glich es dem der elek­tri­schen, die wir damals in der Re­daktion ver­wende­ten. Erst nach­dem ich dies über­prüft hat­te, be­gann ich zu lesen. Ich be­nö­ti­ge nicht die Auf­zeich­nun­gen meines Analyti­kers, um den In­halt des Brie­fes korrekt wie­der­zu­ge­ben. Nie­mals wer­de ich ver­ges­sen, mit wel­chen Wor­ten alles an­fing. Auf dem Papier stand: 

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ES IST DEM VORSCHLAG UND DER FÜRSPRACHE EINES AKASHASTEN ZU VERDANKEN, DASS IHNEN EIN SEHR SELTENES UND EHRENVOLLES ANGEBOT UNTERBREITET WERDEN KANN, WELCHES, SO SIE SICH DENN BEREIT FÜHLEN UND GENÜGEND MUT UND ENTSCHLOSSENHEIT AUFBRINGEN KÖNNEN, UM DIE DAMIT VERBUNDENE VERANTWORTUNG UND GEFAHR AUF SICH ZU NEHMEN, ERKENNTNISSE UND EINSICHTEN GARANTIERT, DIE NUR SEHR WENIGEN PERSONEN ZUTEIL WERDEN UND DAS MENSCHLICHE MASS DES VORSTELLBAREN WEIT ÜBERSCHREITEN.

IHRE GEGENLEISTUNG IST NICHT MATERIELLER ART.

KOMMEN SIE (NUR SIE !) MORGEN UM 2000 UHR IN DAS RESTAURANT DES HIESIGEN »INTERCONTINENTAL« HOTELS.

EIN GROSSES ABENTEUER STEHT IHNEN BEVOR.

 

P.S.: LESEN SIE ALLES NOCH EINMAL; PRÄGEN SIE SICH ORT UND ZEITPUNKT EIN.

UM NICHT IN UNBEFUGTE HÄNDE ZU GERATEN, WIRD DIESER BRIEF VERSCHWINDEN. FASSEN SIE DIES ALS EIN ZEICHEN SEINER WAHRHEIT AUF!

 

Auch nachdem ich den Brief ein zweites Mal gelesen hatte, blieb ich ratlos. Hätte ich nur den Bogen in der Hand gehabt, wäre es ein Leichtes gewesen, ihn als einen wenn auch noch un­ver­ständ­li­chen Scherz, eine Spinnerei, als Werbung für irgend­eine obskure Sekte, auf jeden Fall als etwas nicht Ernst­zu­nehmen­des zu betrachten; aber da war noch der Um­schlag mit mei­ner Handschrift. Der Absender musste mich sehr gut kennen, mög­­li­cher­­wei­se selber Pri­vat­briefe von mir erhalten (beruflich benutzte ich nur die Schreibmaschine) vor allem aber keine Mühe gescheut ha­ben, um - möglicherweise mit Hilfe eines Graphologen - Schrift und Stil perfekt zu imi­tieren. Im Geiste ging ich alle Leute durch, denen ich in den letzten Jahren etwas Handschriftliches ha­be zukommen lassen, insbesondere diejenigen, denen ich einen Sinn für Dramatik oder einen Hang zur Eso­terik, zur Mystik, zum Okkul­ten unter­stellte (der Be­griff »Akashast« ließ mich diffus in diese Rich­tung assoziieren), doch da ich im Unklaren über den Zweck des Schrei­bens war, blieb ich ohne Vermutung. Beson­ders die Passage mit dem »Verschwinden« des Briefes, die all­zu­sehr nach James Bond klang, schien mir dann doch zu dick auf­ge­tra­gen, um sie einen mei­ner Freunde zu un­terstel­len. Außerdem bestätigte sie mich in der bequemen Vermutung, jemand wolle sich einen »Scherz« mit mir erlauben.

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Ich hatte jedoch nur ungefähr fünf Minuten Zeit meinen Ge­danken nachzugehen, bevor das Tele­phon klingelte. Es war Marion und ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern sollte, dass sie meine Über­legungen unterbrach. Sie be­nötig­te für ein Referat in Psycho­logie das Geleit­wort von C. G. Jung zum Bardo Thödol, dem Tibe­tischen To­ten­buch, das sie noch irgendwo in mei­nen Regalen wähnte, und bat mich darum, es für sie her­aus­zu­suchen. Mit »Ich komme dann so in 'ner Stunde vorbei, o.k.?« be­en­dete sie das Gespräch, ohne eine Antwort abzu­war­ten. Scheinbar schien es ihr undenkbar, dass ich etwas ande­res vorhaben könnte, oder nicht sofort bereit wäre, aufgrund ihrer Ankündigung vor­beizu­kom­men, alles andere abzublasen. Ich war wütend über die Selbst­verständlichkeit, mit der sie offenbar meinte, über meine Zeit bestimmen zu können, und vergaß darüber zunächst den Brief. Doch die Wut hielt nicht lange vor.

Ich verstehe bis heute nicht, weshalb mich trotz meiner da­ma­li­gen Stimmung, meiner Einsicht in die Dyna­mik unserer Be­ziehung und entgegen meinen fes­ten Vorsätzen, die Aussicht auf das erste Wieder­se­hen mit Marion nach ihrem Auszug offenbar auch in freudige Er­regung versetzte, da ich alles stehen und lie­gen ließ, und sofort die Suche nach ihrem Buch auf­nahm. Ich brauchte nicht lange, um es auf dem obers­ten Regal direkt unter der Decke zu erspähen. Die Leiter stand auf dem Balkon. Auf dem Weg dahin kam ich am Ba­de­zim­mer vorbei und konnte nicht umhin, mich ganz entgegen meiner Ge­wohn­heit ein zweites Mal zu rasieren und ein after shave auf­zu­tra­gen. Schließlich fand ich mich mit einem frischen Hemd auf der Leiter wieder – im Betrachten einer Ansichtskarte (von mir an Marion) aus San Francisco versunken, die ihr offensichtlich als Lesezeichen gedient hatte - als ich durch das vertraute dreimalige Türklingeln aus meinen Träu­mereien ge­ris­sen wurde.

 Ich musste wohl beinahe eine drei­viertel Stunde auf der Leiter verbracht haben, in Erinnerungen schwelgend, denn Marion kam niemals früher als angekündigt. Ich bemühte mich, ein mög­lichst gleichgültiges Gesicht zu machen, nahm auf dem Weg zur Tür noch schnell einen Schraubendreher in die Hand, um beschäftigt zu wir­ken, und drückte, ohne mich durch die Sprechanlage zu ver­ge­wis­sern, ob es tat­sächlich Marion war, auf den au­toma­tischen Haus­tür­öff­ner. Aus dem Treppenhaus herauf vernahm ich ihre Stimme: »Bist du so gut und bringst mir das Buch kurz 'runter« - auch dies keine Frage, sondern eine Aufforderung - »ich versperre mit mei­nem Wagen die Straße«.

Diesmal konnte ich keine Ruhe bewahren. Auf­gebracht lief ich zu ihr herunter und schrie sie an, sie solle sich ihr verdammtes Buch gefälligst selbst holen (es läge auf dem Schreibtisch) und dabei gleich auch den anderen Mist mitnehmen, der von ihr noch bei mir herumliege; ich würde mich schon um einen Park­platz für ihre Schrott­karre küm­mern.

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 Ohne Wort und Blick ging sie an mir vorbei in das Haus und ich setzte mich in‘s Auto.

Auf ihrer Stereo­anlage (von mir zu­sam­men­gebas­telt und eingebaut) lief eine Kassette mit Erik Satie (von mir für ihr Auto auf­genommen), dessen Musik in diesem Moment wohl den Aus­schlag dafür gab, dass meine Wut einer angenehm dis­tan­zier­ten Melancholie wich. Ein Bekannter von uns verließ das Bistro und warf mir noch einen grüßenden Blick zu, bevor er in seinen Wagen stieg. Mir war egal, was er gedacht haben mag, als er mich in Mari­ons Auto sah; sollten sie doch alle anrufen und fragen, ob wir uns wieder versöhnt hätten, das nein wird mir leicht von den Lip­pen kommen. Ich fuhr in die Parklücke, stellte den Motor aus und lauschte noch ein paar Minuten der Klaviermusik. Dabei stellte ich fest, dass der Aschenbecher voll fil­terloser Zi­garet­ten­stummel war; entweder musste Marion wieder das Rauchen angefangen haben, oder öfter einen Rau­cher als Beifahrer haben (ich dachte da­bei sofort an einen Mann), es kümmerte mich jedoch nicht weiter.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war (die Kassette war abgelaufen), als ich Marion im Rück­spie­gel erblickte. Sie trug ei­nen Haufen Sachen in einem Wäschekorb mit sich; es war wohl der, den sie von ihrer Freundin vor Jahren randvoll mit Ostereiern ge­schenkt bekommen hatte (Marion hat im April Ge­burts­tag), was uns bei­de Magen­beschwer­den und einige zusätzliche Pfunde einbrachte. Nun gut, auch der Korb wird mich zukünftig nicht mehr mit Er­in­ne­run­­gen traktieren. Sie versuchte, ihn in den wie immer mit diver­sen Sachen kunterbunt gefüllten Kof­fer­raum unterzubringen, wobei sie sich von mir nicht helfen lassen wollte, sagte noch, ich müsse meine Woh­nung »‘mal wieder aufräumen« (wie recht sie damit hatte, sah ich erst nachdem ich wieder in der Wohnung war, in der sie auf der Suche nach ihren Sachen alles durch­einander gebracht hatte), ver­abschiedete sich mit einem »Bis dann...« (wann ?) und fuhr davon.

Ich ging zurück in die Wohnung, die mir wie ein verlassenes Schlachtfeld vorkam, und begann damit, etwas Ord­nung zu schaffen. Irgendwie fühlte ich mich be­freit, obwohl der Rauch in der Luft (also doch kein anderer Mann !) zunächst noch unangenehm an Marions Auf­tritt er­in­nerte. Während des Aufräumens war ich in einer fast euphorischen Stimmung, die jedoch nach einiger Zeit einer merkwürdigen Empfindung von Leere wich. Obendrein hatte ich das undeutliche Gefühl, etwas Wichtiges vergessen oder unerledigt gelassen zu haben. Mir stand der Abend bevor und ich führte meine Stimmung auf die noch immer ungewohnte Situation zurück, ihn mir selbst, ohne Vorschlag, Direktive oder Disput gestalten zu können, zu müssen. Als ich in meinen Überlegungen bei der Frage anlangte, was ich eigentlich am vorhergehenden Abend getan, nein, gelesen hatte, fiel mir der Brief wieder ein.

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Ich ging in die Küche um ihn noch einmal zu lesen, aber er war - ver­schwun­den. Auch den Umschlag konnte ich nicht finden. Auf dem Tisch lagen nur noch die Nagel­schere und der Brief meines Chefs, an­sons­ten das übrige Chaos, das ich mehrmals erfolglos durch­suchte. Mich überlief ein Schauder und ich bekam eine Gänsehaut.

Obwohl ich mir völlig sicher war, ihn in der Küche ge­las­sen zu ha­ben, durchsuchte ich mit zunehmender Nervosität sorgfältigst auch die anderen Zimmer (einschließlich des Bade­zim­mers und meines gewechselten Hemdes).

Nach über einer Stunde gab ich es auf und rief Marion an. Sie hat­te ihre Sachen schon längst aus­ge­packt und keinen Brief gefun­den. Ich bat sie, noch einmal genau im Bardo Thödol nach­zu­sehen, aber sie fand lediglich die Ansichtskarte mit der Golden Gate Bridge. Darüber hinaus schwor sie Stein und Bein, meine Küche überhaupt nicht betreten zu haben (»Die nehm' ich mir ein anderes Mal vor«).

Dann wollte sie noch wissen, was für ein bedeu­ten­der Brief es denn gewesen sei, da sie hinter meinem Anruf (dem ersten seit Wochen) wohl andere Gründe ver­mu­te­te, aber ich erzählte ihr nur irgend etwas von einem Rechts­streit wegen eines Zeitschriften­abonnements und tat ihr nicht den Gefal­len, auf unser »Treffen« einzu­gehen. Danach haben wir nie wieder über den Brief ge­sprochen.

Nachdem ich aufgelegt hatte überprüfte ich kurz den Verdacht, Marion könne irgendwie hinter der ganzen Sache stehen, und kam zu dem Schluss, dass dies völ­lig absurd war. Schließlich hatte ich sie ent­gegen ihrer ursprünglichen Absicht bewogen, in meine Wohnung zu kommen, was sie also nicht eingeplant haben konnte, um den Brief zu entwenden. Außerdem hätte ich ihn ja auch bei mir tragen können. Und ab­ge­sehen von der Tatsache, dass dies alles überhaupt nicht zu Marion passte, war sie eine sehr schlechte Schauspielerin. Ich hatte sie immer durchschaut, wenn sie mir etwas vorflunkern oder verheimlichen wollte, und ihr ganzer Auftritt heute, ihre Worte am Telephon, schienen mir absolut authen­tisch gewesen zu sein. Nein, Marion hatte damit nichts zu tun.

Der Brief war verschwunden.

Mir war auf einmal sehr unheimlich zu Mute.

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