Ich musste irgendetwas tun. Ich konnte
nicht mehr in meiner Wohnung bleiben und ging deshalb zunächst in den
nahegelegenen Park. Es war mittlerweile gegen 20.00 Uhr, aber noch sehr
hell. Den ganzen Tag über hatte die Sonne geschienen und immer noch
lagen und spielten halbnackte Menschen, Studenten, Kinder auf der
Wiese. Türkische Familien nutzten den Vorboten des Sommers zu einem
Picknick. Frisbees flogen durch die Gegend, Hunde tobten, winterlich
angezogene Alte fütterten die Tauben; ein Hauch von Marihuana war zu
vernehmen, schnell wieder dominiert von Knoblauch- und Bratwurstduft.
Hier und da plärrte ein Radio, klimperte eine Gitarre, erklang eine
Flöte...
Alles war so normal, so
selbstverständlich, und erschien mir doch wie ein Magisches Theater,
in dem mir keine Rolle zugeteilt war und ich auch keine mehr würde
finden können.
Ich verließ den Park und das Viertel. Vor
jeder Kneipe standen Stühle auf der Straße, und ich war froh, keinen
Bekannten getroffen zu haben. Gewohnheitsmäßig schlug ich den Weg zum
Verlag ein. Um diese Zeit würde ich keinen Kollegen mehr antreffen und
vielleicht etwas Ruhe finden, dachte ich, doch vor dem Haus traf ich
unversehens auf unseren Volontär, der mich auch prompt ansprach. Ich
sagte bezeichnenderweise irgendetwas von einem wichtigen Termin und,
dass ich schnell mein Auto holen müsse, blieb dabei jedoch nicht stehen
und vermied so eine Unterhaltung. Mein Wagen stand noch auf dem
Verlagsgelände, wo ich ihn oft stehen ließ, wenn ich ihn am Abend nicht
mehr benötigte, um so zumindest noch zu einem Spaziergang zu kommen und
der Parkplatzsuche ledig zu sein. Da ich mich beobachtet fühlte, stieg
ich ein und fuhr los.
Ich weiß nicht mehr, wie lange und wo ich
gefahren bin, bevor ich mich in der Gegend des Interconti Hotels
wiederfand; ich erinnere mich nur, einmal am Haus meines Analytikers
vorbeigekommen zu sein, doch ihn um eine Extrastunde zu bitten (die
nächste reguläre hatte ich am Freitag), kam mir nicht in den Sinn. Ich
fand einen Parkplatz (was in unserer Stadt jedesmal erwähnenswert ist)
und betrachtete das Hotel etwas genauer. Es war mir bislang nicht
aufgefallen, und das war bei der langweiligen postmodernen
Betonfassade auch nicht verwunderlich. Kein Platz in der Welt schien
mir ungeeigneter für »ein großes Abenteuer«.
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Im eleganten Foyer fühlte ich mich von
missbilligenden Blicken verfolgt, die sicherlich nur auf meine Kleidung
zurückzuführen waren, die ich jedoch auch bereit war, anders zu deuten
- ich wusste nur nicht, wie. Ich erschrak, als mich ein livrierter Herr
mit der Frage ansprach, ob er etwas für mich tun könne. Da es sich
eindeutig um einen Hotelangestellten handelte, kam mir nichts
anderes in den Sinn, als nach dem Restaurant zu fragen, und ich bekam
dann auch zur Antwort, dass sich dieses im fünften Stockwerk befände,
man mich dort jedoch wegen meiner unangemessenen Kleidung nicht werde
einlassen können. Indirekt gab er mir zu verstehen, dass sich das
"Unangemessene" meiner Jeans und Turnschuhe - da ich nun einmal kein
bekannter Popstar oder Tennisspieler war - auf das Hotel schlechthin
beziehe, und ich besser daran täte, dieses sofort zu verlassen. Ich
wusste selbst nicht, weshalb ich eigentlich hergekommen war, und sah
deshalb keinen Grund, mich seiner impliziten Aufforderung zu
widersetzen.
Wieder im Auto kontrollierte ich meine
gegenwärtige Gemütsverfassung und stellte fest, dass mir sehr unwohl
bei dem Gedanken war, allein in meiner Wohnung zu sein. Gleichzeitig
wollte ich mit niemanden sprechen. Ebensowenig konnte ich mir
vorstellen, am nächsten Tag ganz normal zu arbeiten. Ein Blick in
meine Brieftasche (das Geld reichte) und den Kofferraum (der
Schlafsack war da) machten meinen Entschluss perfekt. Ich rief meinen
Kollegen an und meldete mich für den Rest der Woche ab, fuhr zum
nächsten Imbiss, dann zur Tankstelle, wo ich meinem Wagen 20 Liter
Diesel und mir 0,7 Liter Whisky besorgte, und dann an die See.
Es war kälter als ich gedacht hatte - ich
hatte die ganze Nacht im Auto zugebracht -, war unausgeschlafen,
hungrig und hatte einen ziemlichen Kater, aber ich kannte ein
Vergnügungsschwimmbad in der Nähe, in dem es neben heißen Duschen auch
ein reichhaltiges Frühstücksbüfett gab. Auch hier fühlte ich mich
ziemlich deplaciert. Weder war ich Tourist, noch Tagesausflügler,
auch hatte ich nicht die Absicht, mich in einer künstlichen
Tropenlandschaft zu amüsieren. Nachdem ich geduscht und gut
gefrühstückt hatte (ich hatte wohl bereits im Hinterkopf, dass es bis
um 20:00 vorhalten musste), ging ich spazieren. Die frische Seeluft tat
mir gut. Viele Familien begegneten mir und entgegen meiner Gewohnheit,
grüßte ich wildfremde Menschen. Ich fühlte mich sehr wohl in meiner
Haut, ruhig und ausgeglichen. Die Fremdheit, die Andersartigkeit, die
ich oft empfand, wenn ich mich "unters Volk" mischte, spürte ich auch
diesmal, aber ich empfand das Gefühl des "nicht Dazugehörens" nicht als
schmerzlich. Ich war voll und ganz einverstanden mit der Rolle, die das
Schicksal, die ich mir gegeben hatte, und spürte eher so etwas wie
Stolz, als Einsamkeit. Die wenigen Gedanken die ich hatte, kreisten zwar
um Marion und mich, bezogen sich aber nicht wie sonst auf die
Vergangenheit. Ich dachte über die Zukunft nach: Wie würden wir
miteinander umgehen, was könnten wir aus dem Scheitern unserer
Beziehung lernen?
Seit diesem Tag an der Küste habe ich nie
mehr im Zorn zurück geblickt. Genau besehen, habe ich an diesem Tag
überhaupt emotional Abschied von Marion genommen, hat sie für mich ihre
Bedeutung als Frau, ja als Person verloren. Ob es nun bedauerlich ist
oder nicht, wenn ich ehrlich bin, muss ich meinem Analytiker rechtgeben,
der einmal konstatierte, dass ich Marion seit dem zu einem »Fall«
degradierte und unsere Beziehung zu einem »Muster«, das es galt, nicht
zu wiederholen. Ob dies eine "gesunde" Reaktion auf eine, auf diese
gescheiterte Beziehung war, oder vielmehr Indiz für den wichtigsten
Grund des Scheiterns, sei dahingestellt. Für den Leser dieses Berichtes
bleibt zu bemerken, dass seit diesen Tagen für mich jedenfalls alles
nicht mehr so ist, wie es früher war.
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Ich weiß nicht mehr, wann genau mein
Entschluss fiel, die einseitige "Verabredung" im Interconti
einzuhalten, auf jeden Fall war er nicht Resultat eines bewussten
Abwägens. Auch beunruhigten mich die Umstände der "Einladung" nicht
mehr. Über meine damaligen Motive bin ich mir nicht vollends im Klaren;
sicherlich spielten Neugierde, der Wunsch, etwas "vorzuhaben" und wohl
auch ein wenig "Abenteuer"-lust eine Rolle.
Jedenfalls war ich gegen 18:00 wieder zu
Hause. Post war nicht da und es roch nach kaltem Rauch.
Ich zog mir ein weißes Hemd an, quälte
mich fast eine halbe Stunde mit einem Krawattenknoten herum, holte
meinen einzigen Anzug hervor und bestellte ein Taxi. Um 19:30 betrat
ich dann erneut das Interconti. Ich schlenderte durch die
angegliederten exquisiten Läden und verbarg meine nunmehr doch
aufkommende Nervosität so gut ich konnte hinter einer
geschäftsmännisch gleichgültigen Miene. Um zehn vor acht fuhr ich mit
dem Fahrstuhl in den fünften Stock.
Im Restaurant standen ungefähr zwanzig
Tische, nur an jedem vierten saßen Gäste. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte
ich mir nicht überlegt, wie ich mich verhalten sollte, falls alle Tische
besetzt gewesen wären, und ich war froh, dass diese peinliche Situation
nicht gegeben war. Ich sah mich kurz um, entdeckte aber kein bekanntes
Gesicht. Gerade wollte ich einen der leeren Tische ansteuern, als mich
ein Herr im Smoking oder Frack (ich bekomme das immer durcheinander)
fragend mit meinem Nachnamen ansprach. Ich bestätigte kurz, und er
führte mich mit der konditional verbrämten höflichen Aufforderung »wenn
Sie mir bitte folgen würden...« an einen etwas separat stehenden Tisch
direkt am Fenster, rückte mir genau den Stuhl zurecht, auf dem
ich mich hätte umdrehen müssen, wenn ich das Restaurant überblicken
wollte, entfernte noch schnell das "Reserviert"-Schild und verschwand so
schnell wie er gekommen war. Ich setzte mich sofort auf die
gegenüberliegende Seite des Tisches, um zumindest sehen zu können, wer
oder was da auf mich zukommen sollte. Der Tisch unterschied sich außer
durch seine periphere Lage, die es ermöglichen würde, auch etwas lauter
zu reden ohne befürchten zu müssen, an den Nebentischen verstanden zu
werden, nur dadurch von den anderen Tischen, dass eine seiner Seiten
direkt an dem bis zum Boden reichenden Fenster stand, er also nur von
maximal drei Personen gleichzeitig benutzt werden konnte, während die
anderen Tische einem Quartett genügend Platz boten. An der dem Fenster
gegenüberliegenden Seite des Tisches stand jedoch kein Stuhl, was
sicher nicht auf einen Mangel an Mobiliar zurückzuführen war; ich hatte
also nur eine Person zu erwarten. Auf dem Tisch war neben einem
Blumengesteck und einer Weinkarte nichts weiter zu entdecken. Doch, im
negativen Sinn, denn ein Aschenbecher fehlte, was ihn, wie ich schnell
überprüfte, zusätzlich von allen anderen leeren Tischen unterschied.
Alles war arrangiert, man schien fest mit meinem Erscheinen gerechnet zu
haben.
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Meine Unsicherheit wich einer angenehmen
Spannung. Ich warf einen Blick auf die Weinkarte und versuchte
herauszubekommen, welcher mir schmecken könnte, und muss dann wohl
durch irgendetwas abgelenkt worden sein, jedenfalls schaute ich aus dem
Fenster, als ich plötzlich jemanden sagen hörte: »Nice, to see you«.
Ich hatte ihr Kommen nicht bemerkt.
Mir gegenüber saß - Lila!
Die Stimme war mir sofort zutiefst
vertraut, aber es dauerte einige Sekunden, bis sie mit meinem optischen
Eindruck harmonierte: Lila hatte sich ihre Haare abschneiden lassen,
ihre langen, schwarzen, seidig schimmernden Haare, die mich immer
fasziniert hatten. Sie trug jetzt einen jener Kurzhaarschnitte, die
manche Frauen auf ähnliche Weise als Zeichen ihrer Emanzipation vom
Patriarchat auffassten, wie die männlichen Angehörigen meiner
Generation in der Pubertät die Länge ihrer Haare als Ausdruck ihrer
Distanz zum Establishment.
Außerdem war sie sehr elegant gekleidet.
Sie trug ein - ich glaube in grün gehaltenes - Kostüm, darunter eine
weiße Seidenbluse, die erkennen ließ, dass sie immer noch auf einen
BH verzichten konnte, schwarze Strümpfe und Pomps. Alles in allem
machte sie den Eindruck einer erfolgreichen Managerin, was überhaupt
nicht einher ging mit dem Bild, das sich mir nach unseren vorherigen
Begegnungen eingeprägt hatte.
Nachdem ich realisiert hatte, wer mir
gegenüber saß, stürmte eine Welle unterschiedlichster und scheinbar
unvereinbarer Gefühle auf mich ein, die aufzulisten mich einst eine
ganze Analysestunde gekostet hatte. Die dominantesten waren neben
Erstaunen: Trauer, Angst und unbändige Freude.
Trauer, weil ich (wie mir im
Nachhinein klar wurde) während meiner Beziehung mit Marion und des
Versuchs, mich nicht zuletzt mit der Ausübung eines "bürgerlichen"
Berufes in die "normale" Gesellschaft zu integrieren, Lila und unsere
gemeinsamen Erlebnisse fast vergessen oder beinahe vollständig verdrängt
hatte - ich kam mir beinahe wie ein Verräter vor; Angst, weil ich
spürte, dass mit diesem Treffen mein Leben nun endgültig aus seiner
gegenwärtigen und im großen und ganzen doch bequemen und bewährten Bahn
gerissen werden würde (Veränderungen waren mir immer ein Greuel);
Freude, weil ich Lila schlicht mochte, mehr noch, weil ich sie auf
eine besondere Weise liebte und mich in ihrer Gegenwart stets wohl und
auf eine unerklärliche Art aufgehoben fühlte, was mir, allzumal in
meiner damaligen emotionalen Orientierungslosigkeit, sehr zu pass kam.
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