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Gespräche mit dem GESANDTEN

I Die Kontaktaufnahme

Vorwort
 
1. Der Brief

2. Die Verabredung

 

3 . Lila

  Rückblende

  Das erste Treffen

Unsere Bekanntschaft und Freundschaft war zwölf Jahre alt. Ich erinnere mich noch an jedes Detail unseres ersten Zusammentreffens. Es war in einem kleinen Ort am Fuße des Himalaya gewesen, in dem ich am Ende meiner ersten Indienreise eigentlich nur einen nächtlichen Zwischenstopp einlegen wollte, da bis zum Rück­­­flug von Katmandu nur noch eine Woche Zeit blieb. Ich war noch nie in Nepal gewesen, und wollte deshalb zumindest einige Tage dort verbringen, um einen Eindruck zu bekommen, was mir jedoch durch die Bekanntschaft mit Lila entgangen ist.

Etwas außerhalb des Dorfes hatte ich eine Pri­vat­­un­terkunft bei einem mir als Sadhu angeprie­senen, aber durchaus sehr häuslichen und ge­schäfts­tüchtigen alten Mann gefunden, dessen Namen mir entfallen ist. Nachdem ich meinen Ruck­sack direkt vor dem Haus­schrein deponiert und auf Anraten meines Wirtes Mantras mur­melnd einige Früchte auf dem Altar Shivas und seines Gurus geopfert hatte, begab ich mich, der Sorge um mein Gepäck ent­hoben, auf den Weg zum nahegelegenen Fluss, um zumindest dem Ende der abendlichen Waschung der Arbeitselefanten beizu­woh­nen, deren fröhliches Trompeten ich schon auf dem Weg zu meinem Domizil vernommen hatte. Noch bevor ich den Fluss ausmachen konnte, sprach mich jedoch ein halbwüchsiger indischer Junge mit dem obli­ga­­tori­schen «What‘s your name?« an, ergriff, ohne eine Antwort abzuwarten, mit einem komplizenhaften Lächeln meine Hand und führte mich bestimmend auf einen Seitenpfad. Merkwürdigerweise ließ ich damals ganz gegen meine Gewohnheit jegliche Vorsicht missen und folgte ihm. Auf meine Fragen antwortete er stereotyp aber freund­lich: «wait !«, so dass es meine Neugierde ist, mit der ich mir im Nach­hinein mein argloses Verhalten erkläre.

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Erst nach einigen Minu­ten schweigenden Neben­ein­ander­her­gehens wurde ich gewahr, dass wir uns, wenn auch auf einem anderen Wege, wieder dem Dorf näher­ten. Die Abenddämmerung war inzwischen weit fortgeschritten, das Rot des Himmels zwischen den Wolken vom flimmernden Sternenlicht dekoriert, so dass die Generatoren und Öllampen im Dorf ihren Dienst bereits aufnehmen mussten. Dennoch nahm ich die Nähe des Dorfes zuerst über Ohr und Nase wahr. Der Klang der Muschelhörner und der Duft des Weihrauchs, mit denen die Menschen und Götter zum abend­lichen Gottesdienst zusammengerufen werden, verrieten mir die Nähe des kleinen zentralen Tempels, den ich bereits von der Bushaltestelle aus erkannt hatte. Zuerst empfand ich so etwas wie Enttäuschung - mög­licherweise hatte ich erwartet, an einen geheimnisvollen Ort ge­bracht und in Mysterien eingeweiht zu werden - war dann aber doch froh, mich zu dieser vorgerückten Stunde unter Menschen und in der Nähe eines Restaurants wiederzufinden.

Ich glaubte, gerade eine Er­klärung für das merkwürdige Verhalten meines jungen indischen Freun­des gefunden zu haben, indem ich ihm die Absicht unter­stell­te, einem vermeintlich verirrten Touristen den Rückweg in die „Zivilisation“ zu weisen, als er mich mit sanfter Gewalt in einen fast leeren „Teashop“ zog. Neben dem Wirt, der gerade dabei war, den Boden zu fegen (und einem schlafenden Hund), befand sich nur noch ein Mensch in dem Raum. Auf den ersten Blick konnte ich nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Die Person saß am Fenster, von mir halb abgewandt, und schien mit irgendetwas stark beschäftigt zu sein; sie blickte nicht auf, als wir durch das Glockenspiel an der Tür unüberhörbar den Raum betraten und machte doch den Eindruck äußerster Konzentration und Wachheit. Erst als der Wirt seine Tätigkeit unterbrochen und die Beleuchtung einge­schal­tet hatte, konnte ich erkennen, dass es sich um eine junge weiße Frau handelte. Durch die plötzliche Helligkeit offenbar in ihrer Beschäftigung gestört, drehte sie langsam und missmutig ihren Kopf in meine Richtung, und unsere Blicke trafen sich.

Ich war auf der Stelle verliebt.

Doch bevor ich etwas sagen konnte, schubste mich mein junger Führer direkt auf Lila zu und murmelte dabei insistierend »kiss, love !, kiss, love !«.

Wir waren beide sehr verlegen. Sie strich sich ihre Haare - ich erwähnte sie bereits - aus dem Gesicht hinter die Ohren und blickte mich erstaunt und dann freundlich aus ihren dunklen Augen an, als wollte sie sagen »Da bist du ja endlich, aber wer bist du ?« und ich brachte nichts weiter hervor als »Hello, you know this guy ?«, wobei ich auf meinen indischen Begleiter deutete, der es sich bereits im Schneidersitz auf dem Boden gemütlich gemacht hatte und uns beflissentlich beobachtete.

Sie erzählte mir dann, dass Gopal, wie sie ihn nannte, ihr bereits mehrfach mit obszönen Gesten entgegengetreten sei, sie es ihm jedoch niemals habe ernsthaft übel nehmen können, da sein natürliches Wesen, sein offenes Gesicht und die Mischung aus kindlicher Unschuld und jugendlicher Unverfrorenheit ihr immer Respekt und Gefallen abverlangt habe. Ich weiß nicht mehr genau, welche Worte sie benutzte, es klang aber ähnlich geschwollen und künstlich, so dass mir sofort klar war, Englisch könne ungeachtet ihrer perfekten Aussprache nicht ihre Muttersprache sein. Ich fragte sie dann nach ihrem Namen und woher sie komme, und sie antwortete ausweichend «you can call me Lila«.

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Ihren wirklichen Namen kenne ich bis heute nicht. Erst viel später habe ich erfahren, dass sie in Mexiko-City geboren und im Alter von fünf Jahren als Waisenkind von einer mexikanischen Rechtsanwaltsfamilie adoptiert wurde. Woher ihre Eltern kamen und welche Umstände sie zur Waise machten, konnte oder wollte sie mir nicht sagen. Mit achtzehn hatte sie sich dann nach ihrem High-School-Abschluss von ihrem „Elternhaus“ gelöst und reiste seit dem, stets mit diversen Zeichenutensilien, einer dicken Skizzenmappe und den unterschiedlichsten Büchern ausgestattet, durch die Welt, auf der Suche, wie sie es einmal selbst formulierte, nach »den Formen, dem Sinn, und was Du willst«. Ihre Reise hatte sie über einige südamerikanische Länder zunächst nach Japan und dann nach Australien geführt, wo sie mehrere Jahre verbrachte, in Sydney Philosophie studierte und eine Kunsthochschule absolvierte. Eine kurze Bemerkung, die sie einmal in einem Gespräch über Aufenthaltserlaubnis und Staatsbürgerschaft fallen ließ, lässt mich vermuten, dass sie in Australien auch verheiratet gewesen war (oder ist), was Lila, direkt darauf angesprochen, allerdings weder dementierte noch bestätigte, sondern lediglich mit einem Streicheln über meinen Kopf und dem apodiktischen und jedes weitere Nachfragen ausschließenden Satz »past is gone« kommentierte.

Nach Australien folgte Süd-Ost-Asien und jetzt Indien. Hier wurde sie zunächst auf Empfehlung ihres ehemaligen Spanischlehrers - angeblich ein Freund des mysteriösen Carlos Castaneda, wie sie einmal einfließen ließ - in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie in Madurai aufgenommen.

In dieser südindischen Handels- und Pilgerstadt hatte sie sich dann einige Monate von einem »gelehrten Brahmanen« in das Sanskrit und die hinduistische Ikonographie einführen lassen, da sie ursprünglich vorhatte, sich ihre Weiterreise durch ein Buch über »Formen und Wesenheiten Indiens« zu finanzieren. Eine befreundete Verlegerin aus Australien bekundete damals, ein solches Werk würde ihrem trivial-esoterischen Verlagsprogramm gut zu Gesicht stehen, unterstützte Lila sogar mit Vorabhonoraren, sprang dann aber doch ab, nachdem sie die ersten Skizzen und Texte erhalten hatte, die wohl ihrem Tantra-Klischee der indischen Kunst zuwiderliefen, da sie »zuwenig erotisch« waren, so ihr Urteil.

Lila selbst war darüber zu diesem Zeitpunkt nicht gerade unglücklich gewesen; ihr Interessenschwerpunkt hatte sich in der Zwischenzeit etwas verlagert: Nicht mehr Formen, sondern Formeln übten nun die größere Faszination auf ihr Gemüt aus, das damals von einer eigentümlichen Spannung zwischen analytischem Verstand und jugendlicher, schwärmerischer Sinnsuche mit einem Hang zur Mystik geprägt gewesen sein musste. Das Oberhaupt ihrer Gastfamilie in Madurai, ein indischer Patriarch von altem Schrot und Korn, sehr wohlbeleibt, mit einem fast sardonischen Lächeln und offenbar schon weit über 70 (einem Photo nach zu urteilen, das Lila mir einmal zeigte), war ein passionierter Laien-Mathe­ma­tiker. Durch ein Buch über Kabbalistik, welches er in Lilas Zimmer eines Abends fand, ermutigt, oder vielmehr erzürnt (er war kein Freund der Kabbala), versuchte er mit Enthusiasmus, ihr seine Passion nahezubringen und, durch Lilas Auffassungsgabe, ihre Neugierde (und wohl auch ihren Liebreiz) motiviert, diese zuletzt auch in Lila für sein Metier zu wecken; wohl auch ein wenig von der Hoffnung getrieben, dass sich ein Funken dieser Leidenschaft auf ihn übertrüge. Erfolgreich!

Immer wenn Lila über mathematische Theorien, Theoreme oder Probleme räsonierte, oder besser gesagt, dozierte, erlebte ich sie voller Leidenschaft: Sie sprach von einem »Rausch der Klarheit und Schönheit«, von einem »Reich abstrakter Entitäten, die, eigenen Gesetzen folgend, jenseits von Raum, Zeit und Kausalität aufs wundersamste unser Sein bestimmen«, schalt mich erbarmungslos, als ich einmal ‚Zahl‘ und ‚Ziffer‘ verwechselte (sie sprach meinen Namen falsch aus und fragte dann belehrend: »Habe ich jetzt etwa dich verstümmelt?«), reagierte mit absoluter Intoleranz, als mir bei Mandelbrot und Apfelmännchen nur Witze einfielen (ich hatte damals von der Chaostheorie noch nichts gehört und hielt Fraktale für besondere Bekleidungsstücke) und schien unendlich traurig, wenn ich ihre Faszination für infinitesimale Pro- und Regressionen jeder Art nicht im erhofften Umfang teilte. Sie schwärmte ungeniert von „Höhenflügen“, die sie in den „nächtlichen“ Gesprächen mit ihrem „Babu“, so nannte sie ihren Herbergsvater zärtlich, erlebt hatte, und ich spüre noch heute Eifersucht in mir aufkeimen, welche sich bei diesen Schilderungen in mir damals stets einstellte. Dennoch muss ich diesem Babu Respekt zollen; er übte in diesen wenigen Monaten einen bildenden, sanft und gleichzeitig konsequent korrigierenden, ja im wahrsten Sinne des Wortes erzieherischen Einfluss auf Lila aus, ohne den ihr Wesen in einem wichtigen Aspekt sicherlich nicht erblüht, und ihr Leben - und damit auch meines - völlig anders verlaufen wäre.

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Später erfuhr ich übrigens, dass er in seiner Kindheit und Jugend wohl als eine Art Diener und Laufbursche („Assistant“) für Srinivasa Ramanujan Iyengar gearbeitet hatte, worüber er oder seine Familie offenkundig sehr stolz gewesen sein mussten, denn es wurde in der Todesanzeige besonders herausgestellt. Jener charismatische Mathematiker war mir bis dato völlig unbekannt gewesen, wofür Lila diesmal aber Verständnis zeigte, denn sie selbst hatte diesen Namen zuerst aus dem Munde ihres Babu vernommen und ihn mir gegenüber nur einmal (angeblich im Zusammenhang eines Gespräches über Intuition) erwähnt, woran sie mich später anlässlich der Todesnachricht vergeblich zu erinnern suchte. Nicht entfallen ist mir allerdings meine Reaktion auf ihre posthume schwärmerische Würdigung dieses „Genies“ und die wundersame Verquickung ihres Lebens mit skurrilen oder bedeutenden Menschen: Ich sagte damals, dass es mich nicht verwundern würde, wenn Sie mir als ihre leiblichen Eltern noch Sartre und de Beauvoir präsentierte, was sie allerdings, ohne erkennbar auf die Geschmacklosigkeit dieser Bemerkung zu reagieren, schlicht verneinte.

Diese Art lapidarer Reaktion, dieses mich wörtlich, nachgerade buchstäblich Nehmen, war typisch für Lila, mir deshalb alsbald geläufig, verblüffte mich jedoch jedesmal wieder aufs Neue. Insbesondere schien sie unfähig oder unwillig zu sein, in unseren Gesprächen ironische Wendungen zu erkennen oder gar zu verwenden. Nicht, weil ihr dieses rhetorische Mittel unvertraut wäre, denn sie hatte sogar ein sehr differenziertes Verständnis der Begriffe ‚Ironie‘, ‚Zynismus‘ und ‚Sarkasmus‘, welches Sie in einer Diskussion über die Cyniker einmal zum besten gab, auch nicht, weil es ihr etwa unmoralisch oder wenigstens un­sym­pathisch erschien; nein, sie vermied es schlicht, weil es nicht ihrem Wesen entsprach.

Sie lobte bisweilen sogar (und selbstverständlich ohne Ironie) meine »Meisterschaft« in der Verwendung dieser Mittel, als deren Ursprung sie bei mir auch keineswegs eine Schwäche oder etwa den Wunsch, andere zu verletzen diagnostizierte. Vielmehr interpretierte sie besonders meine, wie sie meinte, »ehrliche Variante des Zynismus« als eine durchaus legitime Strategie des Selbstschutzes und des Überlebens in einer Welt voller äußerer und innerer Widersprüche und „Ungerechtigkeiten“, welche gegenüber den beiden anderen Strategien mir einerseits hülfe, Wut und Gewalt zu vermeiden, mir anderseits aber trotzdem ein Leben mit offenen Augen und wachem, unzensiertem Geist ermögliche.

Ich fragte sie damals, wie es in diesem Punkte denn bei ihr selbst bestellt sei, und sie antwortete, dass sie einen Weg gefunden habe, der mir nicht offen stünde, vielleicht, weil ich »ein Mann« bin, und dass dieser Weg »etwas mit Liebe zu tun« hätte. Meinem Einwand, hungernde Kinder etwa würden durch Liebe nicht satt, entgegnete sie nur - wie hätte es anders sein können -: »that‘s right«.

Als wir über dieses Thema sprachen, hatte ich neben dem Erstaunen darüber, wie gut sie mich bereits kannte und wie fast klinisch präzise sie mich beschrieb, zum ersten Mal den diffusen Eindruck, dass sie mich aus mir unerfindlichen Motiven seit unserem ersten Zusammentreffen zu ergründen suchte, dass sie bemüht war, sich ein Bild meines Charakters, meines Geistes, meiner Seele zu machen, ja dass sie mich vielleicht sogar, nach welchen Kriterien und zu welchem Zwecke auch immer, gewissermaßen auf die Probe stellte. Aber dazu später mehr.

Zwischen Madurai und unserem nordindischen Dorf lag noch eine weitere Station in Lilas Odyssee, die ich der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt lassen möchte.

Nach dem Abschied von ihrem Babu suchte sie, ich glaube auf Rat ihres Sanskritlehrers, einen Swami auf, der in der Nähe von Bombay (oder Mumbai, wie sie schon damals sagte) im Rahmen eines orthodoxen Ashrams Yoga, Meditation und Shaivismus lehrte und den sie (wenngleich auch nur ein einziges Mal und in einem Nebensatz) wiederum mit dem Hindi-Kosenamen für „Vater“ belegte (was mein Analytiker geflissentlich notierte).

Bevor ich Lila traf, verbrachte sie vier Monate mit ihm und führte ein sehr asketisches und kontemplatives Leben, über das sie allerdings wenig sprach. Was sie dann an den Ort unserer Begegnung verschlagen hatte, blieb mir unklar, wie auch überhaupt ihre Person mir in den wenigen Tagen die wir damals miteinander verbrachten äußerst rätselhaft und widersprüchlich, aber seltsamer­weise doch zutiefst vertraut vorkam.

Aber ich habe schon viel zu weit voraus gegriffen. Kehren wir also zurück zu unserer ersten Begegnung.

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Nachdem auch ich mich auf die übliche Weise vorgestellt hatte, ihr meinen Namen sagte, woher ich kam, wohin ich wollte etc., zeigte sie mir, womit sie gerade beschäftigt war. Sie fertigte aus Rudraksha-Kernen mit Hilfe von Silberdraht Ketten, wie sie die hinduistischen Mönche tragen, sogenannte Malas aus 108 Perlen, vergleichbar den christlichen Rosenkränzen. Sie waren für die Jün­ger­schaft eines ortsansässigen „Heiligen“ bestimmt, von dem Lila im Gegenzug Yogaunterricht, Unter­kunft und Verpflegung erhielt. Momentan fand in dessen Ashram gerade Darshan statt, dass heißt, viele Jünger waren teilweise von weither gereist, um in der Gegenwart ihres Meisters zu meditieren, den einen oder anderen Wunsch vorzutragen und seinen Worten zu lauschen. Da sie jedoch ihren Guru entweder bereits gefun­den zu haben glaubte, oder aber vom Glauben an das Guru-Prinzip kuriert war (sie verweigerte es stets, sich zu dieser Frage zu äußern), hielt sie sich fern, hatte ihre Unterkunft einem jungen Nepalesen überlassen und wollte die Nacht (und wohl auch die folgenden) auf der Veranda des Teas­hops verbringen.

Mir ging sofort die Frage durch den Kopf, ob ich ihr anbieten sollte, bei mir zu schlafen; ich verwarf diesen Gedanken jedoch mit Rücksicht auf meinen Gastgeber.

Unterdessen war es Gopal offenbar zu langweilig geworden, denn er hatte uns den Rücken zugewandt und tuschelte mit dem Wirt.

Weiß Gott, worauf er spekuliert hatte. Möglicherweise hatte er eine jener opulenten Liebesszenen erwartet, wie sie den Indern in ihren „open-air“ Dorf- und Wanderkinos ständig von Bombays Film­industrie vorgeführt werden. Jedenfalls hatte er das Interesse verloren, so dass wir ungestört durch seine Blicke zu Abend essen konnten. Ich habe ihn nie wieder gesehen und weiß bis heute nicht, ob ich ihm dankbar sein oder ihn verfluchen sollte.

Lila erschien mir damals ungemein begehrenswert. Ich hatte den Eindruck, als ob das Neonlicht, dass normalerweise jeden kör­per­liche Makel erbarmungslos zum Vorschein bringt und die Menschen oft krank aussehen lässt, im Kampf mit Lilas natürlicher Aus­strahlung unterlag, ja diese gar unterstützte.

Während unseres Abendessens, oder vielmehr, während Lila aß, denn ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals und konnte kaum einen Bissen hinunter bekommen (was sicherlich nicht nur daran lag, dass sie meine Bestellung von chicken masala mit einem missbilligenden Augenaufschlag zur Kenntnis nahm - sie war „selbstverständlich“ Vegetarierin!), musste ich sie unentwegt beobachten, ihr Gesicht, ihren Mund, ihre Hände (sie aß ohne Besteck). Sie ließ es zu, ohne zu fragen und ohne sich stören oder in ihrem Appetit beeinträchtigen zu lassen. Es schien fast so, als nähme sie mich beim Essen gar nicht wahr, obgleich ich sie wohl bisweilen ziemlich unverfroren angestarrt haben musste, denn ich hatte dabei nur eines im Sinn, was meine Blicke wohl kaum verhehlten: Mit ihr zu schlafen.

Es war nicht dazu gekommen. Genau besehen, weiß ich überhaupt nicht, ob wir jemals miteinander geschlafen haben, doch dazu später. Meine Augen hingen an jenem ersten Abend jedenfalls an Lilas Körper, meine Ohren an ihren Lippen und mein Geist an ihren Gedanken, die sie in eine spartanische Sprache kleidete, welche mir zuweilen fast dadaistisch vorkam und mich zugleich an Zen-Koane erinnerte, seltsamerweise jedoch ohne dunkel und rätselhaft zu erscheinen. An die Inhalte unseres ersten Gesprächs kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Zu sehr war ich damals damit beschäftigt, ihre Gestalt als Ganzes auf mich wirken zu lassen. Wir müssen aber einige Stunden zusammen verbracht haben, denn das erste, was mich unsere Umgebung wieder wahrnehmen ließ, war, dass wir plötzlich im Dunkeln saßen - und allein. Totenstille herrschte. Offensichtlich hatte unser Wirt mit Gopal schon vor längerer Zeit und ohne die Zeche einzufordern seinen Teashop verlassen, um sich schlafen zu legen. Das Verstummen des Generators war eine Zäsur, wie sie für mich schärfer nicht hätte eintreten können. Ich war eine Zeitlang unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, zulange jedenfalls, um Lila zuvorzukommen, die sich plötzlich erhob, in Erwartung dieses abrupten Tagesendes wohl schon vorher ihre Sachen zusammengepackt hatte, und mit dem mehrdeutigen Satz »Sun’s shining again tomorrow« in Richtung Hinter­aus­gang verschwand.

Als ich durch das einfallende Mondlicht einigermaßen die Orientierung wiederfand, war von ihr nichts mehr zu sehen.

Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Zu verwirrt war ich von der Begegnung. Vor dem Haus meines Gastgebers, auf einer Schaukel unter den Zweigen eines Banyan-Baumes, versuchte ich, Klarheit in meine Gedanken und Empfindungen zu bringen, verlor mich aber in Phantasien und Wachträumen. Ich war damals unfähig, über meine weitere Reise einen Gedanken, geschweige denn einen Entschluss zu fassen, denn es gab für mich keine Alternative. Ich musste Lila wiedersehen.

Ich kann meinen damaligen Zustand noch heute sehr gut nachempfinden. Alle anderen Erinnerungen an diese erste Indienreise verblassen, sobald ich an diesen Abend, diese Nacht, diese Tage mit Lila denke. Auch habe ich mir durch meinen Analytiker angewöhnt, diese Schaukel als Schlüsselmetapher zu begreifen. Hätte ich damals onaniert oder mich betrunken, so sagte er einmal, wären meine ganzen Probleme, derentwegen ich die Therapie begann, womöglich nicht aufgetreten. Ich jedoch hatte es vorgezogen, den Kontakt zur Erde aufzugeben, nicht mehr »mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen«, sondern hatte mich auf einen schwankenden Grund begeben, den ich bis heute noch nicht verlassen habe.

Aber zurück zu jenem ersten Morgen.

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